Alzheimer in Hongkong

■ „Sommerschnee“ von Anne Hui im Wettbewerb

Womöglich eignet sich kaum eine Krankheit so sehr zur Markierung kultureller Differenzen wie die, bei der individuelle Vergangenheit verschwindet.

„Complaints of a not so dutiful step-daughter“ hätte dieser Film auch heißen können, denn es geht um eine sogenannte moderne Frau, die neben ihrem Job einen recht dürren Mann, einen pubertierenden Sohn und eben ihren Schwiegervater bekocht, der vom Habitus her ein stillgelegter Fliegergeneral mit Auszeichnungen aus dem Krieg gegen die Japaner ist. Man weiß nicht gleich, daß Pathologie im Spiel ist, man denkt, es ist eben Patriarchat – eine Konfuzion, die der Film willig in Kauf genommen, wenn nicht konstruiert hat.

Der Schwiegervater scheucht seine Frau in den Tod und will dann, so scheint es, mit der Schwiegertochter May fortfahren. Die arbeitet in einer Firma mit 46 Sorten Toilettenpapier. ‘Du kannst mich mal...‘, möchte man meinen.

Es geht aber um mehr: Verschiedene Modelle der Moderne bieten sich der Kronkolonie auf dem Weg in Richtung Mainland China: Soll die Toilettenpapier- Firma auf Computer umstellen? Soll Paps in der Familie bleiben, oder muß er in ein Heim? Soll der Sohn lieber zum Kondomautomaten oder hinter dem entlaufenen Schwiegervater herrennen?

Das sind alles so Fragen, die noch dadurch pikantisiert werden, daß die Darstellerin der May die aus Schanghai stammende Aktrice Josephine Siao Fong-Fong ist, die als Kinderstar Filme in Mandarin drehte und in den sechziger bis achtziger Jahren zu einem der wichtigsten Stars des kantonesischen Kinos wurde. Sie war zur Stelle, als die „Hongkong New Wave“ erfunden wurde, und daß sie nicht nur Opern-, sondern auch Kung-Fu-Filme gemacht hat und 1967 „The Female General“ war – in „Sommerschnee“ glaubt man ihr das aufs Wort. Mitunter kriegt der Gatte eine gepellt, da möcht' man nicht in seiner Haut stecken.

Die Regisseurin wiederum stammt aus der Mandschurei, hat Fernsehserien für eine „Unabhängige Kommission gegen die Korruption“ gedreht und sich im übrigen mit Vietnam befaßt (in Cannes zeigte sie „The Boat People“; außerdem ist sie Produzentin des im Forum laufenden „The Day the Sun Turned Cold“). Anne Hui sagt, sie sei auf den Straßen Hongkongs herumgelaufen und habe immer mehr verwirrte, alte Leute gesehen; eine Stimmung, die womöglich auch etwas jüngere Bürger dieser Stadt vor der Wiedervereinigung erfaßt hat.

Fakt ist: Vater kann nicht in ein Heim, auch wenn er zu Hause versucht, mit den Nerven seiner Schwiegertochter Fallschirm zu springen. mn

„Xiatian de Xue“ (Sommerschnee) Regie: Ann Hui. Mit: Josephine Siao, Roy Chiao, Law Kar Ying. Hongkong 1994, 106 Minuten