Es geschah am Heidebad

Ein Kind von irischen Travellern wird vermißt. Die Medien machen aus dem Drama eine Farce  ■ Aus Buxtehude Bascha Mika

Da verschwindet ein Kind. Patrick, drei Jahre, blondes Haar, blauäugig, rote Jacke, grüne Hose. Gerade noch hatte er mit anderen gespielt, draußen, nahe am Wasser der Este. Dann war er weg. „Dreijähriger Junge vermißt“, verbreiten die Nachrichtenagenturen. Wen interessiert das landesweit? „200 Verwandte suchen Patrick“, titelt ein Boulevardblatt. Wer hat eine so große Familie? Seit zehn Tagen wird Patrick vermißt. Wenig Spuren, viele Spekulationen. Eine Kleinstadt im Medienaufruhr.

Der Parkplatz ist eine nasse, graue Fläche. Schlammig und voller Pfützen, da wo das Pflaster abgesackt ist. Fahlgelbes, niedergetrampeltes Gras und ein paar Büsche trennen ihn vom Wasser, vom Ufer der Este, die eigentlich nur ein Flüßchen ist, aber in dieser Jahreszeit schnell und reißend wird. Der Platz gehört zum Freibad von Buxtehude. Heidebad heißt es, denn es liegt am Rande der Stadt.

Der Parkplatz ist voll. PKW stehen in den Buchten, Kleintransporter, Lastwagen, Caravans. Die Wohnwagen auf der linken Hälfte des Platzes sind klein, unscheinbar; die auf der rechten meist aus Holz, buntbemalt. Fahrendes Volk hat am Heidebad Quartier bezogen. Rechts der Wanderzirkus „Traber“, links irische „Traveller“ aus Limerick. Zwischen den Wagen treiben sich Kinder herum, kleine, die gerade mal laufen können, ältere, die mit ihren selbstgebastelten Schaukeln an den Ästen der Bäume strampeln. Die Kinder spielen fast lautlos.

Bis vor wenigen Tagen gehörte Patrick Sheridan zu dieser kleinen Bande. Die Kinder toben draußen, auch wenn es kalt ist und harsche Böen über den Platz ziehen. Die gasbeheizten Wohnwagen der Traveller sind ihnen zu eng. Er müßte mal pinkeln gehen, hatte Paddy seinen Freunden mittags gesagt und war mit seinem Teddy wegmarschiert. Am Heidebad gibt es kein Wasser und keine Toiletten. Pinkeln gingen die Traveller am Ufer der Este oder direkt in den Fluß. Die Kinder durften nicht allein in die Nähe des Wassers.

Vier Stunden später vermißt Patricks Mutter den Jungen. Sie hatte geglaubt, er wäre mit seinem Großvater unterwegs. Der Opa kommt vom Einkauf zurück, allein. Mary Sheridan erleidet einen Nervenzusammenbruch, die Polizei wird alarmiert, die Suche beginnt. Das war am vergangenen Mittwoch, nachmittags, zwei Stunden vor Einbruch der Dunkelheit. „Ich kann mich nicht mit den Iren hinstellen und in die Este weinen“, sagt Matthias Oltersdorf, Chef der Buxtehuder Polizei, „ich muß professionelle Arbeit abliefern.“ Oltersdorf stellt eine Suchmannschaft zusammen. DLRG und Freiwillige Feuerwehr rücken aus. Das Gelände rund um das Heidebad wird abgegangen, abgefahren, mit einem Hubschrauber abgeflogen; die Este von Booten und Tauchern abgesucht. Ergebnis Mittwoch abend: nichts.

Donnerstag. Die Buxtehuder sind aufgeschreckt. Noch am Tag zuvor hatte ihnen ihr Buxtehuder Tageblatt mitgeteilt, daß sich wilde Camper am Heidebad breitgemacht hätten, daß sich die Anwohner „erheblich belästigt“ fühlten und das Ordnungsamt versprochen hatte, „mehr Druck“ zu machen, damit sie endlich verschwänden. „Nichts gegen die Leute, die sind lieb und nett“, meint Polizist Oltersdorf, „aber eine Stadt kann es sich nicht bieten lassen, daß öffentliche Plätze okkupiert und versaut werden.“

Die Stadtbewohner und ihre Institutionen waren sich einig: Die Camper mußten weg. Doch plötzlich schaut ein kleiner, niedlicher Junge von einem Flugblatt herab, das die Travellerkinder in der Stadt verteilt hatten. „Missing Patrick“. Die Stimmung in der Stadt kippt. „Na, ja, wo es doch um ein Kind geht“, sagt die Verkäuferin im Süßwarenladen, „das rührt einen doch an.“

Halb Buxtehude ist auf den Beinen, um Patrick zu suchen. Das Gelände wird wieder und wieder durchkämmt, der Fluß weiter abgesucht, ein Teich nahezu trockengelegt. Ergebnis Donnerstag abend: Ein vom Wasser aufgequollenes Stofftier wird an einem Wehr gefunden. Patricks Teddy. „Ist der kleine Patrick in der Este ertrunken?“, fragt das Buxtehuder Tageblatt. Noch haben die anderen Medien keinen Wind bekommen.

Freitag. Die Polizei macht mit ihrer Suchaktion Pause. Sie spricht von einer „Vermißtensache“. Die Familie nicht. Mit einer schweren Joppe, grau im Gesicht, steht Großvater Sheridan vor seinem Caravan am Heidebad. Große, rissige Hände hat er und weiß nicht, wohin mit ihnen. Er heißt Patrick, wie sein Sohn und sein Enkelsohn. Der Vorname wird dem Erstgeborenen vererbt. Die Sheridans sind Traveller seit Generationen. Ab dem Mittelalter nennt man das fahrende Volk in Irland „Tinker“. Doch der Begriff wird heute von Seßhaften nur noch abfällig benutzt, gleichbedeutend mit Gaunern und Arbeitsscheuen. „Wir nennen uns Traveller“, erklärt der alte Sheridan, „aber gypsy ist auch o.k.“ Die Traveller leben und fühlen wie Zigeuner, haben eine eigene Sprache und eigene Kultur – und werden in England und Irland diskriminiert wie Zigeuner überall.

„Vielleicht ist Patrick doch entführt worden“, der alte Sheridan reibt sich die roten Augen, „sonst hätte man ihn doch längst finden müssen. Das passiert doch überall in Europa, daß kleine Kinder gekidnappt werden. Gerade weil er blond ist und blaue Augen hat.“ Nicht nur er glaubt so halb an die Entführungsthese durch einen sexuell motivierten Täter. Auch die anderen acht Familien auf dem Platz – sie gehören zur selben Sippe – verstehen nicht, warum Patrick noch nicht gefunden wurde. Sie machen der Polizei Vorwürfe. „Warum hat man nicht die umliegenden Häuser durchsucht“, fragt ein Vetter erbost, „warum nicht die Wagen des Zirkus?“ – „Völlig hilflos sind wir“, murmelt Patrick Sheridan der Jüngere, „wir verstehen die Sprache nicht. Wenn wir Paddy wenigstens beerdigen könnten ...“

Im Januar kamen die Traveller aus Frankreich, in Buxtehude wollten sie nur ein paar Wochen bleiben, dann weiter nach Berlin fahren. Sie sind Straßenarbeiter, ziehen mit ihren Lastern und kleinen Baumaschinen durch die Gegend, asphaltieren hier eine Auffahrt, pflastern da einen Privatweg, arbeiten als Subunternehmer für größere Baufirmen. Seit Patricks Verschwinden arbeitet von den Sheridans niemand mehr.

Die Polizei verlegt sich auf die Befragung der Familie. Die Buxtehuder werden unruhig. Immer mehr Zigeuner reisen an. Sie kommen aus England und Irland, wollen mitsuchen. Die Traveller haben ein gut funktionierendes Telefonsystem. In Null Komma nichts ist die Sippe unterrichtet und erscheint. Zu einer Beerdigung zum Beispiel oder wie jetzt zur Unterstützung der Sheridans. Samstag abend kippen sich die angereisten Männer die Birne zu, in zwei Kneipen wird randaliert. In der Stadt machen Gerüchte die Runde: Könnte es nicht sein, daß die Iren ihren kleinen Jungen selbst weggeschafft haben, um nicht aus der Stadt vertrieben zu werden?

Die Polizei steht unter Zugzwang. Am Sonntag veranstaltet sie eine weitere riesige Suchaktion. 160 Freiwillige der ganzen Gegend beteiligen sich. Halb ist es Show, halb die Hoffnung auf die Stecknadel im Heuhaufen. Polizist Oltersdorf: „Wir suchen Beweismittel, um eine Gewalttat ausschließen zu können.“ Ergebnis am Sonntag abend: nichts.

Montag. Die Presse erscheint in der niedersächsischen Kleinstadt. Schnell läßt die Stadt Trockentoiletten und Müllcontainer auf den Parkplatz am Heidebad schaffen. Von der Vertreibung des fahrenden Volkes ist schon lange nicht mehr die Rede; das würde jetzt keinen guten Eindruck machen.

Kameraleute und Mikorophonträger stolperten durch die engen Gassen der Altstadt. Was für 'ne Story: Verschwundenes Kind, haufenweise Zigeuner, Gipsy-Folklore, Sippentreue. Ließe sich da nicht auch was mit Fremdenhaß in Buxtehude konstruieren? Aus den hundert angereisten Verwandten der Sheridans werden zweihundert, aus allen Iren, egal ob schmalbrüstig und sommersprossig, große, harte Kerle. „Mensch, die Oma soll sich doch mal an den Fluß stellen und hineinheulen,“ feixt ein Fotograf vom Kölner Express. Auf Bilder von der verzweifelten jungen Mutter wird Jagd gemacht, auf O-Töne vom erschütterten Vater. Die Fotografen drücken selbst den Kleinen im Kinderwagen Patricks Fahndungsblatt in die Hand, um sie dann damit abzulichten.

„Alle Zyniker der Republik haben sich hier versammelt“, konstatieren die Zeitungsleute vom Buxtehuder Tageblatt. Jeder Taucher wird mit der Kamera verfolgt. Alles sofort gefilmt, was sie aus dem Wasser ziehen. Es könnte ja die kleine Leiche sein. „Ich weiß gar nicht, was wir machen sollen, wenn die Taucher Patrick tatsächlich finden“, grübelt Olterdorf, „wie wir die Leiche vor der Presse in Sicherheit bringen können, um sie zu untersuchen.“ Ergebnis der Suche am Montag: nichts.

Dienstag. Die Taucher suchen weiter. Die Sheridans setzten 500.000 Mark Belohnung aus. Eine Sensationsmeldung für die Boulevardblätter – aber wahr. Wieder schwirren Gerüchte durch Buxtehude. Woher nehmen Zigeuner soviel Geld? „Wenn Patrick entführt wurde“, hofft Sheridan der Jüngere, „gibt der Entführer ihn für soviel Geld vielleicht wieder her. Gipsies aus ganz Europa werden für uns sammeln.“ Er hofft vergeblich. Ergebnis am Dienstag: nichts.

Mittwoch und Donnerstag: nichts.

Die Sheridans haben ihre Verwandten zurückgeschickt. Die Presse ist fast vollständig abgereist. Patrick Sheridan der Alte hat eine Botschaft für die Buxtehuder. „Sie haben ihr Bestes getan, um uns zu helfen,“ sagt er, „und ich möchte mich für diejenigen von uns entschuldigen, die hier am Wochenende Ärger gemacht haben.“

Am gestrigen Freitag hat die Polizei die Suche nach Patrick Sheridan abgebrochen.