"Ich führe ein normales Leben"

■ Gesichter der Großstadt: Regina Hammer-Schmidt arbeitet seit 40 Jahren in der Kreuzberger Blindenanstalt / Die 59jährige verlor als Jugendliche das Augenlicht

„Mensch, Jürgen, du frühstückst wie ein Ferkel. Guck mal hier, wie du wieder gekleckert hast.“ Regina Hammer-Schmidt nimmt einen Lappen und wischt den Teefleck von dem Tisch des Aufenthaltsraums. Eine Szene, wie sie sich in jedem Betrieb, in jeder Frühstückspause abspielen könnte. Aber die „Firma“, wie Frau Hammer-Schmidt ihren Betrieb nennt, unterscheidet sich in einem Punkt von anderen Arbeitsstätten. In der Oranienstraße 26 arbeiten ausschließlich Blinde und Sehschwache, zum Teil auch geistig behinderte Menschen. Auch sie ist blind, den Teefleck hat sie, für den ungeübten Beobachter kaum bemerkbar, ertastet.

Vor kurzem feierte Frau Hammer-Schmidt ihr 40jähriges Dienstjubiläum in der Blindenanstalt. Von den Arbeitskollegen erhielt sie ein ungewöhnliches Geschenk: ein Landschaftsbild. „Im Vordergrund ist ein Kornfeld mit Mohnblumen, da geht ein Mädchen in einer weißen Bluse durch. Aber es ist alles nur schemenhaft angedeutet. Das ganze Bild ist in einer Tupftechnik gehalten“, beschreibt die 59jährige das Geschenk, das jetzt über ihrer Wohnzimmercouch hängt. Sie möchte sich ihre Umgebung gerne schön gestalten, erklärt sie. Das Bild hat sie sich von einer Freundin beschreiben lassen und entschieden, das es ihr gefällt. „Das bißchen Sehkraft, das ich früher hatte, habe ich immer ausgenutzt. Das kommt mir heute sehr zugute.“

Als sie mit 17 durch eine Netzhautablösung völlig erblindete, stieß sie bei einem Einkaufsbummel mit ihrer Mutter zufällig auf die Blindenanstalt. „Mein Vater meinte, daß ich nicht zu arbeiten bräuchte, weil ich blind bin. Das habe ich immer anders gesehen“, erzählt sie. Auf Nachfrage erhielt sie einen Arbeitsplatz in der Einzieherei, wie das Herstellen von Bürsten genannt wird. Ihre Spezialität sind gedrehte Tüllenbürsten zum Reinigen von Gläsern und Flaschen. Weil die Auftragslage schlecht ist, produziert sie im Augenblick aber Straßenbesen. Während sie sich mit den Kolleginnen unterhält, dreht sie einzelne Haarbüschel in die vorgestanzten Löcher der Besenplatte und befestigt sie oben mit Drahtfäden. 79 Löcher hat eine Platte, Regina Hammer-Schmidt braucht eine Viertelstunde für einen Besen. „Aber eigentlich macht es mehr Spaß, Tüllenbürsten herzustellen. Da brauche ich nicht stillzusitzen“, sagt sie und deutet auf die Werkbank, die verwaist in der Ecke steht. Trotzdem produziere sie lieber Straßenbesen für einen Auftraggeber als Tüllenbürsten für das Lager. Denn eins will Frau Hammer-Schmidt auf gar keinen Fall: eine Beschäftigungstherapie, die ihr aus Mitleid angeboten wird. „Ich will ein normales Leben führen“, sagt sie.

Seit 39 Jahren ist sie Betriebsrätin in der Blindenanstalt. Trotz des guten Verhältnisses zu dem „Chef“ würde sie ihm nicht nach dem Mund reden, betont sie. Als die Blindenanstalt in den sechziger Jahren auch für geistig Behinderte geöffnet wurde, mußte sie erst lernen, mit deren Bedürfnis nach körperlicher Nähe umzugehen. Inzwischen redet sie von ihren „Mäusen“ und wird selbst liebevoll „Mama“ genannt. Der Leiter der Anstalt denkt jetzt schon mit Bedauern an den Zeitpunkt, wenn Frau Hammer-Schmidt in Rente geht. „Es wird schwer, eine Nachfolgerin zu finden, der alle Kollegen so viel Vertrauen entgegenbringen wie unserer Regina“, meint Peter Bergmann.

Für Regina Hammer-Schmidt ist die Blindenanstalt ein zweites Zuhause geworden. Jeden Morgen fährt sie zusammen mit ihrem Mann, der dort seit 34 Jahren tätig ist, aus der nahe gelegenen Manteuffelstraße zur Arbeit. Die vielen Straßenstände und Baustellen machen es ihr unmöglich, zu Fuß zu gehen. „In einer Baugrube bin ich schon mal gelandet, die war so schlecht abgesichert.“ Während sie das erzählt, lacht sie. Ebenso wie bei der Erinnerung an ihren ersten Versuch, alleine zur U-Bahn zu gehen. „Durch den Blindenstock merkte ich, daß jemand neben mir stand. Den fragte ich, ob er mir über die Straße helfen würde, und bekam keine Antwort. Ich fragte noch mal, und wieder passierte nichts.“ Schließlich sei eine Frau zu Hilfe gekommen, die ihr erzählte, daß sie eine Straßenlaterne angesprochen habe.

Aber auch über ihre Rentenzeit macht sie sich keine Sorgen. Die Ideen sprudeln förmlich aus ihr hervor: Konzertbesuche, reiten, kegeln, tanzen und reisen. „Ich würde auch gerne in den Urwald fahren.“ Das wird wohl eine der wenigen Ideen sein, die sie nicht verwirklichen wird. „Mein Mann verträgt das Klima dort nicht“, erklärt sie. Gesa Schulz