: „Das ist ein Katastropheneinsatz“
Sie werden durch die Straßen getrieben, verhaftet, abgeschoben. Auswärtigen und ausländischen Drogensüchtigen in Zürich beibt nur eine Zuflucht: die Notschlafstelle von Pfarrer Sieber. ■ Aus Zürich Michaela Schießl
Noch zwei Stunden, dann hat er es geschafft. Dann haben sie ihn nicht erwischt, heute nicht. Also noch einmal, Fäuste in die Hosentaschen, Blick senken und loshasten, die Langstraße hoch und runter, vom Limmatplatz bis zum Helvetiaplatz und retour und aufpassen, wie ein Luchs aufpassen, damit die Bullen ihn nicht kriegen, so wie vorgestern, als sie ihn weggeschleppt haben, ins Rückführungszentrum.
„Am besten, man benimmt sich ganz unauffällig“, sagt Thommy, „so, wie jeder normale Mensch, dann erkennen sie einen nicht so schnell.“ Und so setzt er eine Normalo-Miene auf sein graues, pausbäckiges Gesicht. Es wird nicht viel nutzen. Seine Jeans und sein Hemd sind voller bräunlich-roter Flecken. Unter der ärmellosen Jacke schaut der Kragen vor, der umsäumt ist von Blutflecken, von den Spritzen, die er sich in den Hals setzt, weil die entzündeten Arme an schlechten Tagen keine Vene mehr hergeben wollen.
Thommy ist 31 und seit 15 Jahren auf der Züricher Drogenszene, eine Institution schon fast. Er kann die Vertreibungen gar nicht mehr zählen. Aber so eine Räumung wie jetzt beim Letten hat er noch nie erlebt. Denn diesmal ist er, der Alteingesessene, Freiwild. Wie jeder ausländische oder auswärtige Süchtige. Der Stadtrat hat – mit Hilfe der Boulevardpresse – die Szene in einer beispiellosen Weise gespalten: auf der einen Seite die guten, armen Züricher Süchtigen, die von der Stadt betreut werden, auf der anderen Seite die bösen, schlimmen Ausländer, allesamt Dealer, Schmarotzer und Ausbeuter. Skrupellose Schweine eben, die geschlagen, geprügelt, gedemütigt gehören und dann nichts wie raus aus dem Land mit ihnen. Irgendwo dazwischen befinden sich die Schweizer Süchtigen, die nicht aus Zürich stammen. Auch die werden abgeschoben, in ihre Heimatgemeinden.
Thommy ist ein Auswärtiger. Doch keine zehn Pferde bringen ihn zurück in sein Heimatdorf. Wo es keine Infrastruktur gibt für Süchtige, keinen Stoff, keine Szene. Glücklicherweise weigert sich sein Ort, ihn aufzunehmen – wie viele. Drei Tage nach der Lettenschließung muß die Polizei 40 Prozent der Rückführungskandidaten nach 24 Stunden wieder freilassen, weil die Gemeinden die „Annahme“ verweigern. Ähnlich die Situation bei den Ausländern: Die Knäste sind überfüllt – sie werden festgenommen, einige Tage behalten, entlassen, aufgegriffen, wieder entlassen. Eine Tortur für die Süchtigen, denn Ausländer bekommen kein Methadon im Knast. Und so stürmen immer mehr den einzigen Ort in der Stadt, zu dem sie noch Zutritt haben, wo sie nicht entrechtet sind, wo sie keinen Paß vorzeigen müssen, keinen Eingangstest bestehen: Die private Anlauf- und Notschlafstelle in der Neugasse 34.
Alle Rolläden des vierstöckigen Hauses sind heruntergelassen, ein Sicherheitsbeamter kehrt den Bürgersteig. Kein Nachbar soll sich aufregen können über das, was sich hier abspielt. Nur eine einzige Klingel ist beschriftet: „Betten statt Letten“. Wer hier läutet, wird nicht gefragt, woher er kommt. Hier finden alle Zuflucht, ob Illegale, Schweizer, Ausländer, Kleindealer. Denn diese Anlaufstelle gehört zur Stiftung von Pfarrer Sieber, und der handelt seit nunmehr 40 Jahren stur-heil christlich, Gesetze hin oder her. „Meine theologische Verantwortung gebietet mir, allen Menschen zu helfen“, sagt der Medienstar Sieber. „Ich werde niemanden ausschließen, das ist durchs Neue Testament voll gedeckt. Wer soll mich hier richten? Ich werde mich verantworten, eines Tages, vor dem lieben Gott.“ Sieber ist 70 Jahre alt und aalglatt im Umgang mit den Ämtern, die ihn zähneknirschend gewähren lassen. „Was sich hier abspielt, ist die Wirklichkeit. Und da wird eben gedealt, gedrückt, geklaut. Es gibt keinen weltlosen Gott. Außerdem: Räumung, das heißt doch: Räume schaffen. Genau das tue ich.“
Ganz spontan hat er beschlossen, die Notschlafstelle zu eröffnen, die eigentlich nur als Anlaufstelle für Kollbrunn gedacht war, eines seiner Therapie-Projekte. „So ist er, spontan, anarchisch und absolut planlos“, stöhnt Vanessa Frei, Leiterin der Notschlafstelle. Denn während der Chef glücklich von dannen eilt, um weiterhin Gutes zu tun, bricht über ihr das Chaos zusammen. Dutzende von Süchtigen sammeln sich vor dem Zufluchtsort, völlig Verzweifelte, die nicht mehr wissen, wohin. „Der Druck auf der Straße ist ungeheuer groß“, berichtet Nikos. „Alle sind aufgeregt, aggressiv, irren umher, suchen die Dealer, den Stoff und fürchten die Bullen.“
Offiziell passen nur 30 Leute in das Haus mit den zehn Schlafzimmern. „Zum Teil hatten wir über 40 hier, ich kann sie doch nicht da raus schicken“, sagt Vanessa. Im kleinen Büro nimmt sie die Neuankömmlinge auf, läßt sich erzählen, ob sie mißhandelt wurden, schaltet, wenn notwendig, das Anwaltskollektiv ein. Sie gibt Kleider aus, saubere Spritzen und organisiert das fünfköpfige Betreuerteam. In den Schlafräumen ist kein Stück Fußboden ist mehr zu sehen, jeder Winkel wird genutzt. In der Ecke stapelt sich die dreckige Wäsche, es riecht säuerlich, nach Männerschweiß, Ammoniak und Jugendherberge. Um sieben Uhr kommt Selleriedunst dazu: Zeit für warmes Essen. Eine Schüssel Reis mit Gemüse steht auf dem Wachstischtuch, die Besucher rangeln sich um die Sperrmüllstühle. Als sich ein Araber über das Essen beschwert, bricht ein Streit los: „Geh doch ins Hotel, du Arschloch, hier gibt's genug, die rein wollen, das ist unser Zuhause, hau bloß ab, Scheiß-Araber.“
Vanessa schlichtet. „Das ist schon ein Problem hier“, sagt sie, „die Araber sind schon ziemliche Machos manchmal. Wir haben ein extra Araber-Zimmer eingerichtet, damit es keinen Streit gibt.“ Doch bei ihr kommt eine Ausgrenzung der Ausländer nicht in Frage. „Die haben das gleiche Recht wie alle. Das hier ist ein reiner Katastropheneinsatz“, klagt sie, „keine Spur von Professionalität.“ Nur ein Tropfen auf den heißen Stein sei das, reine Soforthilfe, denn Ende Februar wird die Notschlafstelle wieder geschlossen. „Was wir brauchen, ist eine Amnestie für Süchtige und eine Legalisierung der Drogen. Dafür hätten wir die 12 Millionen benutzen sollen, die die Lettenräumung kostet.“
Thommy ist der Veteran in der Neugasse und der Herr des Fixerraums. Er genießt seine Stellung. Denn bislang gehörte er zu der niedersten Kaste der Fixer, den Filterli-Fixern. Jene, die schon längst nicht mehr arbeiten können, nicht dealen, nicht auf den Strich gehen, zum Einbrechen nicht fähig sind. Ihre Aufgabe war es, den anderen Fixern saubere Spritzen, Tupfer, Ascorbinsäure zu besorgen. Als Lohn bekamen sie stoffgetränkte Filter, durch die das Heroin in die Spritzen gezogen wird. Sie kochen die Filter aus, um den letzten Stoff rauszusaugen. Den Filterli-Leuten ist durch die Schließung der offenen Drogenszene der Arbeitsplatz flötengegangen. Thommy hat Glück, in der Neugasse zu sein. Er säubert den Fixerraum, putzt das Blut vom Boden, zieht den Junkies die Fixen auf. Dafür bekommt er deren Filter.
Ralf gibt ihm sogar ein wenig echten Stoff ab. Ralf ist 24, seit vier Jahren drückt er. Ein sauberer Popperschnitt umrahmt sein sensibles Gesicht. Er trägt saubere Boss-Jeans, eine moderne Jacke. Das erhöht die Chancen draußen. „Ich weiß nicht, warum ich drücke. Ich werd' mit meinen Problemen nicht fertig.“ Drei Therapien hat er schon hinter sich. „Das letzte Mal kam ich zurück, voll motiviert. Ich hatte eine Wohnung gefunden und wollte mir Arbeit suchen. Und dann kam der Schrieb: 6.000 Franken sollte ich bezahlen, wegen unerlaubten Drogenbesitzes, Jahre vorher. Da bin ich zusammengebrochen und sofort ab auf den Letten, einen Druck setzen.“ Vorhin war seine Muttter da, wollte ihn sehen. „Ich bin nicht rausgegangen zu ihr, ich schäme mich zu sehr. Ich bin ein Versager.“ Langsam krempelt er den Ärmel hoch, sucht seinen dünnen Arm ab nach einer Vene. Dann setzt er die Spritze an, die ihm Thommy gerichtet hat. Es will nicht klappen, Blut tropft auf den Boden. Er flucht. Nein, die Mutter ist nicht schuld an seiner Misere. Sicher, sie hatte nie Zeit für ihn, aber nur, weil sie Geld verdienen mußte, um zu überleben. „Solange wir kriminalisiert werden, gibt es für uns keine Rettung“, sagt er. Drei Monate lang ist er auf den Strich gegangen, um sich die 300 Franken zu verdienen, die er täglich braucht. „Die Freier, die sind doch auch süchtig, süchtig nach Schwanz. Denen tut keiner was.“
Beim zweiten Versuch klappt es, Ralf schließt die Augen. Neidisch schaut Claudio zu. Er hat nichts abbekommen und jammert über die mangelnde Solidarität. „Halts Maul“, sagt Thommy. „Von dir hat noch niemand was gekriegt. Halt bloß die Schnauze.“
Bis spät in die Nacht ist Betrieb im Fixerraum und hinten, wo Crack geraucht wird. Erst gegen vier Uhr kehrt Ruhe ein. Vanessa macht einen Rundgang durch die Zimmer. Vorsichtig steigt sie über die dichtgedrängten Leiber und stößt jeden einmal sanft an. „Ich muß kontrollieren, ob sie atmen.“ Ein Notarzt ist immer in Bereitschaft, falls jemand kollabiert. Heute nacht ist alles in Ordnung. Nur Ralf liegt noch im Crack- Raum. Sie bringt ihn ins Bett. Dann, endlich, setzt sie sich in die Küche, wirft eine Packung Tortellini in den Topf. Plötzlich geht die Tür auf, es ist Thommy. Vanessa teilt die Tortellini. „Weißt du, ich glaub', ich will aufhören“, sagt er und reibt sich seine Arme, die über und über mit entzündeten Stichen bedeckt sind. „Ich glaube, ich kann es schaffen, zusammen mit Gott.“ Vanessa hat nichts am Hut mit Gott, doch sie rät ihm zu. „Wichtig ist nur, daß Gott nicht zu deiner Ersatzdroge wird. Du mußt lernen, dir selbst ins Gesicht zu sehen.“ Als Thommy nach einer halben Stunde geht, glaubt sie, daß er es schaffen wird.
Ab sechs Uhr wird das Frühstück gerichtet, Stullen mit Marmelade, Obst, Süßigkeiten. Vorsichtig weckt Uli, ein Teammitglied, die Schlafenden auf, mehrmals muß er in die Zimmer, den Männern – nur zwei Frauen schlafen hier – auf die Beine helfen. Die meisten haben in den Kleidern geschlafen. Nun schleppen sie sich in den Fixerraum, den Morgenknall setzen. Vanessa hat frisches „Eisen“ bereitgelegt, neue Nadeln. Thommy waltet seines Amtes.
Langsam füllt sich das Eßzimmer. Aschfahle Gesichter, es wird nicht viel gesprochen um diese Zeit. Mit blauen, entzündeten Händen schmieren sich die Bewohner ihr Brot. Manch einer holt sich frische Klamotten, weil ihm irgend etwas geklaut wurde. Alle wissen, was heute auf sie zukommt. Rumrennen, die Langstraße hoch und runter, auf der Suche nach Stoff. Bloß nicht erwischt werden, alles, nur nicht Knast. Ein Afrikaner kann nicht aufstehen. „Der ist völlig auf dem Affen, auf Entzug“, sagt Vanessa. Sie muß mit ihm ins Krankenhaus. Allen anderen schreibt sie Bestätigungen aus, daß sie hier wohnen, „als kleiner Schutz“.
Um 8.30 Uhr müssen alle raus auf die Gasse, erst gegen 17 Uhr ist wieder Einlaß. Sie sitzen auf der Treppe, bis zum allerletzten Moment. „Mal sehen, wer heute abend noch da ist“, sagt Ralf. Er selbst geht ein bißchen dealen, um Geld zu verdienen für den Stoff. „Was anderes bleibt nicht mehr.“
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