■ Bedenkliches
: „Plötzlich Deutsche“

Die Einbürgerung von Ausländern bereitet nicht nur deutschen Behörden Schwierigkeiten, sondern auch deutschen Journalisten. Ihnen entgleiten Sprache und Stil, wenn sie vor diesem seltsamen Phänomen stehen.

Familie Șenay aus der „türkischen Kleinstadt“ Manisa (die Industriestadt hat mehrere 100.000 Einwohner) hat die Zeit (vom 2.2. 1995) zu einem Artikel inspiriert: Familie Șenay hat sich nämlich einbürgern lassen. „Jetzt kommt für Familie Șenay der große Augenblick: Sie werden eingebürgert und sind plötzlich Deutsche. ,Aber wenn man an die Grenze kommt und die deutsche Fahne sieht‘, sagt Herr Șenay, ,dann ist das – irgendwie komisch, so innendrin – ein Gefühl: Das gehört dir, und du gehörst dazu.‘“ Da ist es gut, wenn die außenstehende Journalistin mit kühlem Blick das Wesentliche beobachtet.

Der German Dream vom Gastarbeiter zum Wohlstandstürken: „Die Wohnung ist modern ausgestattet, ein Auto steht vor der Tür, die Kinder kommen in der Schule gut mit.“ Auf dieser Stufe angelangt, gehören sie doch dazu, nicht wahr? So werden aus Türken „plötzlich Deutsche“. „Die Familie hat sich eingerichtet, in diesem Leben in zwei Kulturen, wo über dem Fernseher das Foto von Özgürs Beschneidungszeremonie an der Wand hängt und auf dem Tisch ein Ikea-Katalog liegt.“

Ach, was weiß die Schreiberin schon von diesem Leben mit den zwei Kulturen: Hier die traditionelle Beschneidung, dort der moderne Ikea-Katalog! Wenn es denn alles so einfach wäre!

Über die Einbürgerungsfrage wird in der letzten Zeit allerlei Unfug geschrieben. Da geistern „anatolische Bauern“ mit ihren archaischen Sitten durch das moderne Deutschland – ob das gutgeht? „Nicht nur Türken, die meisten Einwanderer und Emigranten aus autoritären Ländern sind konservativ und verachten die modernen deutschen Sitten.“ (taz vom 2.1. 1995) Zwei Dinge werden grundsätzlich miteinander verwechselt. Erstens die Volkszugehörigkeit mit der Nationalität, zweitens die Fiktion von einer einheitlichen Kultur (wie auch immer definiert) mit der alltäglichen Vermischung unterschiedlicher kultureller Bezüge.

Wo gibt es ihn noch, den Deutschen, den Türken? Ist es nicht selbstverständlich, daß ein Türke nach der Übernahme der deutschen Staatsbürgerschaft seine türkische Volkszugehörigkeit behält? Warum müssen Volkszugehörigkeit und Nationalität identisch sein? Blumenau in Brasilien, wo der Trachtenrock den Samba auf ewig zu verdrängen hat, geistert in den Köpfen. So wird der Griff des anatolischen Reisbauern zum skandinavischen Möbelkatalog vor seiner Verdeutschung zum kulturrevolutionären Akt.

Oder, in Șenays Worten: „Es ist wie mit einer holländischen Tomate. Die wird durch einen anderen Aufkleber auch nicht zu einer bulgarischen.“Karin Yeșilada