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Mit Geigen und präparierten Tonbändern auf Tour: Stevie Wishart und ihr Ensemble  ■ Von Christoph Wagner

Musiker, die zwischen verschiedenen Stilarten pendeln, sind im „seriösen“ Musikbetrieb immer noch suspekt. Wer heute Jazz, morgen Klassik und übermorgen Rock spielt, gilt als Generalist, der alles nur ein bißchen kann, aber eben nichts richtig.

Die Virtuosin auf Drehleier, mittelalterlicher Fiedel und Violine ist schon länger das Gegenteil einer streberhaften Musterschülerin. „Sinfonye“ lautete im 13. Jahrhundert die Bezeichnung für die Radleier, und nach ihrem Hauptinstrument hat Stevie Wishart das Ensemble benannt, mit der sie seit 1986 die mittelalterliche Musik gegen den Strich bürstet – wobei Kompositionen im Mittelpunkt stehen, die entweder von Frauen geschrieben oder wenigstens inspiriert wurden.

Die Äbtissin, Mystikerin und Komponistin Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) und die provenzalische Troubadoura Elenore von Aquitanien (1122 bis 1204) nehmen im Programm einen prominenten Platz ein. Aber nicht nur in Fragen des Repertoires, auch in puncto Aufführungspraxis verfolgt Stevie Wishart einen eigenen Kurs: „... die Kompositionen so mitreißend und vital zu spielen, als ob sie erst gestern entstanden wären.“

Was Kritiker als „unhistorisch“ tadeln („Die Quellen nennen keine Trommeln!“), bedeutet für Stevie Wishart eine Befreiung von eurozentristischer Borniertheit. Vielleicht hat es damit zu tun, daß sie als Australierin weniger im westlichen Denken befangen ist. „Notierte Musik, wie sie in Europa vorherrscht, macht nur einen Bruchteil der Musik der Welt aus, die überwiegend mündlicher Natur ist“, argumentiert sie – und liefert damit die Begründung für den Versuch, über die orale Spielpraxis in die Welt der Neumen und Ligaturen einzudringen.

„Es erscheint mir viel natürlicher, Musik zu erfinden, als Musik zu lesen“, umreißt sie ihre Auffassung, die der Improvisation in der Musik des Mittelalters einen besonderen Stellenwert einräumt und damit die herrschende Lehrmeinung herausfordert. Denn für akademische Forscher ist das Stegreifspiel ein „blinder Fleck“, wie Stevie Wishart herausfand, als sie im Rahmen einer Doktorarbeit als „Scholar“ an der Universität Oxford (sie lebt die Hälfte des Jahres dort) tiefer in die Materie eintauchte.

Intensives Quellenstudium förderte das Konstruktionsmuster mittelalterlicher Tanzweisen zutage, deren verschiedene kleine Melodien sich nach dem Baukastenprinzip auf vielerlei Art zusammenfügen lassen und so der Improvisation Tür und Tor öffnen. Weitere Hinweise auf die Erfindungsgabe und den Variationsreichtum lieferten Vergleiche mehrerer Versionen des gleichen Lieds in verschiedenen Manuskripten.

Dazu kamen Recherchen vor Ort. Wishart nahm etliche traditionelle Musikstile unter die Lupe, um mehr über die Spielweisen von früher zu erfahren. Sie reiste nach Indien und lauschte in Rajasthan bettelnden Straßenmusikanten, die stundenlang eine einzige Melodie variierten. In der Wüste Thar begegnete sie fahrenden Bänkelsängern, deren dramaturgische Tricks ihr wertvolle Anregungen gaben. Durch die Arbeit mit einheimischen Sängern in Südfrankreich machte sie sich mit der okzitanischen Sprache vertraut, der alten „langue d'oc“ der Troubadoure. Danach ging es nach Nordspanien, wo man heute noch auf Dorfgeiger stoßen kann, die auf archaischen, mit Roßhaarsaiten bespannten Streichinstrumenten musizieren, wie sie in den Stein der Kathedrale von Santiago de Compostela gemeißelt sind.

Dort, in der entlegenen Bergwelt Kantabriens, löste sich für Stevie Wishart der alte Streit um die „richtige“ Handhabung und Haltung mittelalterlicher Streichinstrumente (vertikale Knie- oder horizontale Schulterhaltung) in Luft auf. Spielte der Musikant im Freien zum Tanz, klemmte er die Fiedel unters Kinn, wohingegen er drinnen zur Gesangsbegleitung die Geige in Cellohaltung strich. „Warum soll das vor 600 Jahren nicht genauso gewesen sein?“

Letztes Jahr hat Stevie Wishart zum erstenmal die strikte Trennung ihrer beiden musikalischen Tätigkeitsbereiche aufgegeben. Dem Konzertprogramm von „Sinfonye“ schob sie eine ihrer zeitgenössischen Kompositionen unter – und war von der positiven Resonanz überrascht. Die Fremdartigkeit der mittelalterlichen Musik schien den ZuhörerInnen die Ohren für Neutönerisches zu öffnen. In diesem Genre arbeitet sie normalerweise mit „Machine for Making Sense“, einem elektro- akustischen Ensemble aus fünf der erfindungsreichsten Experimentalkünstler Australiens.

Durch das Ineinanderblenden von Live-Elektroniks und Improvisationen schafft die Gruppe feingewobene Collagen, die das Phänomen von Stimme und Sprache umkreisen. Während Rik Rue verfremdete Alltagsgeräusche und Sprachfetzen von präparierten Tonbändern abspielt, unterhalten sich Amanda Stewart und Chris Mann in Phantasiesprachen, spulen Wortreihen ab und werfen sich absurde Dialogfragmente zu. Jim Denley ahmt den Sprachgestus auf diversen Holzblasinstrumenten nach, indem er vokalartige Laute produziert und durch die Flöte zu einem rhythmischem Japsen steigert.

Was besonders überrascht: Die Drehleier kann problemlos mithalten. Man begreift schlagartig, warum das Borduninstrument mit Handkurbel und Tasten in Musikerkreisen als „Synthesizer des Mittelalters“ gilt. Vom rhythmischen Schnarren bis zu Violintönen mit Herzvibrato sind dem klobigen Holzkasten eine Vielzahl von Klangfarben zu entlocken, die sich mit elektronischen Mitteln zu futuristischen Spacesounds steigern. Dann schwebt das Mittelalter in die Zukunft davon.

Termine: 23.2.: Berlin, Ballhaus Naunynstraße; 11.3.: Dortmund, MeX; 23.3.: Wien, Kunstradio ORF; 31.3.: Basel, Taktlos-Festival; 1.4.: Zürich, Taktlos-Festival

Diskographie:

„Bella Donna/The Medieval Woman as Poet, Patroness and Saint“. Hyperion Records A66283.

„Arrests D'Amour/Eleanor of Aquitaine and her Courts of Love“. Hyperion Records A66367.

„The Sweet Look and the Loving Manner/Trobairitz“.

„Love Lyrics and Chansons de Femme from Medieval France“. Hyperion Records A66625.

Machine for Making Sense:

„On Second Thoughts“. Toll Poppies Records TP034.