Sich öffentlich treffen können ist bloß das erste

Danach kommt die Politik: Erste Erfolge für Schwule und Lesben in Ungarn, Rumänien, Litauen, Tschechien und Ex-Jugoslawien  ■ Von Scott Long

Vor 1989 war in den meisten osteuropäischen Ländern Homosexualität ein Tabu; nur in Ostdeutschland gab es ansatzweise eine öffentliche Diskussion. Unter den neuen demokratischen Verhältnissen hatten Schwule und Lesben ihr großes Coming-out. 1993 nahmen Hunderte von Delegierten von über 60 Gruppen an einer osteuropäischen Regionalkonferenz der Internationalen Schwulen- und Lesbenvereinigung teil.

Seit 1989 haben Schwulen- und Lesbenbewegungen dieser Regionen einen Ort für das Begehren im demokratischen Traum von der Offenheit eingefordert. Aber es gibt immer noch enge Grenzen. Die Öffentlichkeit, die durch die allgemeine Befreiung entstand, ist für Homosexuelle weiterhin mit einem unsichtbaren Stacheldraht umgeben. In Rumänien wird beispielsweise schon ihre Forderung nach Rechten als Verbrechen und „öffentlicher Skandal“ gewertet. Der wahre Skandal ist aber, wie eng die Grenzen der Öffentlichkeit gezogen sind.

In ganz Osteuropa basierte das kommunistische System auf der gesetzlichen und außergesetzlichen Kontrolle der Privatsphäre. Das Leben in Rumänien, wo bis zu einem Viertel der Gesamtbevölkerung für die Securitate spioniert hat, war besonders repressiv. Aber insgesamt waren alle Regimes angewiesen auf ein dichtgeknüpftes Überwachungsnetz. Nach dem Umsturz von 1989 hieß Entwicklung von Demokratie vor allem: Herstellung und Schutz einer Privatsphäre.

Unter Liberalen und Gesetzesexperten Osteuropas herrscht inzwischen Einigkeit darüber, daß „ein Recht auf den Schutz der Privatsphäre“ unbedingt einschließen muß, sexuelle Beziehungen zwischen „einverständigen Erwachsenen“ innerhalb ihrer Privatsphäre zu entkriminalisieren. Einige Regierungen hatten bereits in den Sechzigern ihre Anti-Homosexuellen-Gesetze aufgehoben, in der Sowjetunion wurden jedoch weiter Hunderte von schwulen Männern nach Paragraph 121 des Strafgesetzbuches alljährlich in die Gefängnisse geworfen. Und das Ceaușescu-Regime bediente sich fabrizierter Anklagen wegen Homosexualität, um heterosexuelle Dissidenten zu diskreditieren.

Der Schutz schwuler und lesbischer Beziehungen ist vom Europarat als „Recht auf den Schutz der Privatsphäre“ anerkannt worden: Empfehlung 924, die vom Parlament 1981 verabschiedet wurde, war schon damals ein weitreichender Forderungskatalog zur Herstellung gesetzlicher und gesellschaftlicher Gleichheit für Lesben und Schwule. In drei Schlüsselfällen ordnete der europäische Menschenrechtsgerichtshof an, daß Mitgliedsländer ihre Anti-Homosexuellen-Paragraphen streichen müssen. Und weiterer Druck wurde 1991 ausgeübt durch den Beschluß von amnesty international, als politische Gefangene auch alle aufgrund einer antihomosexuellen Gesetzgebung Verhafteten anzuerkennen.

Zögernd fingen die osteuropäischen Regierungen meist schon vor ihrem Antrag auf Aufnahme in den Europarat an, Homosexualität zu entkriminalisieren, allen voran die Ukraine, die 1991 ihren aus sowjetischer Zeit geerbten Paragraphen 121 strich. Präsident Jelzin nahm das Gesetz durch Erlaß erst 1993 für Rußland zurück, und bisher haben fast alle Länder der GUS samt den baltischen Staaten diesen Paragraphen gestrichen. Sogar die restjugoslawische Republik Serbien, die nun überhaupt keine Chance auf Zugang zum Europarat hat, hob das gesetzliche Verbot männlicher Homosexualität im August 1994 auf.

Andere Schlachten müssen auf dem Feld der Gesetzgebung allerdings noch geschlagen werden. So diskriminieren in den meisten Ländern die Regeln der sexuellen Volljährigkeit weiterhin Homosexuelle, und Strafen für „sexuelle Verbrechen“ sind für homosexuelle Akte auf bizarre Weise ungleich: Während in Rumänien der neue Gesetzentwurf zum Beispiel heterosexuelle Vergewaltigungen mit einer geringeren Strafe bedroht, ist das russische Strafgesetzbuch gegenüber homosexueller Vergewaltigung weniger drakonisch. Zudem gibt es Hinweise, daß die öffentlich geschürte Angst vor Aids neue Formen gesetzlicher Repression hervorrufen könnte. Alles in allem aber hat sich der Kampf in den meisten Ländern aus den Schlafzimmern nach draußen bewegt.

Die erste Notwendigkeit, auf die man dann stößt, ist die, einen Ort der Begegnung zu haben. Und schon hier liegt eines der größten Hindernisse: Nirgends gab es in Osteuropa vor 1989 eine offen schwule Bar oder ein Café. Lesben und Schwule vernetzten sich miteinander durch ängstlich zusammengehaltenen Beziehungsklüngel, die sich in Privatwohnungen oder gar noch weniger leicht zugänglichen Orten trafen. Die erste Schwulenorganisation Ungarns entstand aus einem Freundeskreis, der sich lange Zeit nur zu Spaziergängen im Wald, fern von neugierigen Blicken, getroffen hat.

Seit 1989 sind natürlich überall kommerzielle Unternehmen entstanden, die die Schwulen und Lesben des Landes als ihre Kunden einbeziehen. In Ungarn aber kriegen Bars zum Beispiel öfters ungebetenen Polizeibesuch, wobei Ausweispapiere kontrolliert werden, was vor allem die nicht offen lebenden Schwulen terrorisiert. In Rußland und in den baltischen Ländern werden Schwulenbars durch kriminelle Banden erpreßt und zur Schließung gewzungen – während es in Rumänien, Serbien und Albanien bis heute nicht eine einzige Schwulenbar gibt.

Der Mangel an Orten der Begegnung ist besonders akut für Lesben. Im allgemeinen sind sie die kleinere Gruppe und verdienen weniger als Männer, so daß eine eigene Bar oder ein Café nicht aufrechterhalten werden kann; nichtkommerzielle Orte sind so gut wie gar nicht vorhanden. „Arkadia“, die Schwulen- und Lesbengruppe in Belgrad, wurde aus ihrem Büro in einem Frauenzentrum vertrieben, als die Nachbarn – Psychologen, die mit Kriegsflüchtlingen arbeiten – sich über sie beschwerten und behaupteten, daß sie durch ihre bloße Existenz die Gesundheit ihrer Klienten gefährdeten (siehe Lepa Mladjenović von „Arkadia“ auf diesen Seiten). Sich treffen können ist das erste. Danach kommt die Politik. Nach 1989 entstanden überall Schwulenorganisationen, viele noch unter den Bedingungen der Illegalität. Aber die Regierungen stehen weiter Wache vorm Tor zur zivilen Gesellschaft, und in mehreren Ländern wird den Homosexuellenorganisationen kein offizieller Status eingeräumt.

Solange es keine expliziten Schutzmechanismen für Lesben und Schwule gibt, sich frei zu treffen und zu organisieren, werden vage formulierte Registrationsbedingungen als Ausschlußmechanismen gegen sie mißbraucht. Als die bereits sterbende kommunistische Regierung Ungarns 1989 ein Gesetz verabschiedete, das die Rahmenbedingungen für eine pluralistische Parteienlandschaft herstellen sollte, kam der erste Antrag zur Registrierung von einer Lesben- und Schwulenorganisation. Zähneknirschend wurde die Gruppe registriert, allerdings nur unter der Bedingung, daß sie ihre Aktivitäten auf „medizinische Arbeit“ beschränkt.

Die Versuche rumänischer Schwulen und Lesben, ihre Organisationen registrieren zu lassen, waren total erfolglos; eine der Verhinderungsstrategien war, in kafkaesker Weise die Antragsteller um Papiere von einem Ministerium zum anderen zu schicken, wo es weder Zuständige noch sonst etwas gab.

Einer litauischen Gruppe wurde die Registrierung verweigert mit der Begründung, das Wort „schwul“ existiere in der litauischen Sprache nicht. Und in Moskau behinderte man homosexuelle Organisationen mit einem 1990 eingeführten sowjetischen Gesetz, das die „Schaffung und Aktivität gesellschaftlicher Gruppen, deren Ziel die gesundheitliche und moralische Schädigung der Bevölkerung ist“, strafbar macht.

In fast allen Ländern war die Gründung schwuler und lesbischer Zeitungen oder Zeitschriften ein großer Schritt vorwärts. Dadurch werden nicht nur Informationen verbreitet, sondern auch Kontakte hergestellt, besonders für die, die nicht in großen Städten oder Ballungszentren leben.

Keines dieser Medien ist aber wirtschaftlich profitabel, fast alle werden durch freiwillige Spenden aufrechterhalten. Obwohl es ein breitgestreutes Programm zur Entwicklung einer offenen Gesellschaft gibt (finanziert von der Soros-Stiftung), das besonders auch unabhängige Medien unterstützen soll, haben lesbische und schwule Medien keinerlei Hilfe von dort bekommen. In Rumänien war das Unternehmen einer schwulen Zeitung zum Scheitern verurteilt, als sich herausstellte, daß sowohl Vertriebe als auch Verkaufsstellen sich weigerten, sie zu vertreiben oder auszulegen. In Ungarn zog sich die Druckerei nach ein paar deutlichen Worten der Katholischen Kirche aus dem Vertrag zurück, so daß die Schwulenzeitschrift Masok über Nacht ihren Verkaufspreis verdoppeln mußte.

Als 1991 ein homosexueller Mann in Budapest ermordet in seiner Wohnung aufgefunden wurde, fand man bei ihm ein Exemplar des Masok. Die Polizei lud die Redaktion zum Verhör vor und informierte sie darüber, daß sie in diesem Mordfall zu den Verdächtigen zählten. Man forderte die Herausgabe der gesamten Abonnentenliste, und nur die schnelle Berichterstattung eines Radiojournalisten über den Fall sorgte dafür, daß die Masok-Redakteure schnell wieder freigelassen werden mußten. Ereignisse wie dieses bestätigen die Befürchtung vieler Aktivisten in Osteuropa, daß die Polizei immer noch „Rosa Listen“ führt, also Namenslisten von Homosexuellen, die um Geld oder Informationen erpreßt werden können.

In Albanien, Rumänien und Serbien sind Aktivisten verhaftet und von Polizisten schwer mißhandelt worden, weil sie sich weigerten, Namen anderer Aktivisten preiszugeben.

Aber es hat auch Erfolge gegeben. Sowohl in Ungran wie auch in der Tschechoslowakei wurden von kleinen Verlagen schwule Romane publiziert; sowohl in Budapest als auch in Moskau fanden schwul/lesbische Filmfestspiele statt. Und obwohl die Probleme für Lesben in Osteuropa noch viel komplexer sind und nur wenige Länder Osteuropas unabhängige Lesbengruppen vorweisen können, hat eine estnische Gruppe ohne jede Unterstützung von außerhalb ein Lesben-Nottelefon einrichten können.

Die Schwulen- und Lesbenorganisationen Osteuropas entstanden aus den demokratischen Veränderungen – aber sie hatten kaum das Gefühl, daß sie auch integraler Bestandteil derselben sein könnten.

Vorurteile sind nicht der einzige Grund für diese Blindheit. Die Region wird von Nationalismen dominiert, und Nationalismus ist als solcher monolithisch. Er kreiert Denkmäler jenseits individueller Sehnsüchte und historischer Veränderungen. In Rumänien verkörperte Ceaușescus Dorfzerstörungsprogramm diese nationalistische Aspiration, deren Wesen es ist, tatsächliche menschliche Gemeinschaften, sobald sie im Wege sind, mit Verachtung beiseite zu schieben. Er führte Krieg gegen die Hütten und Höhlen, in denen Singularität und Solidarität hausen.

Nationalismus weist jede „andere“ Identität zurück und unterwirft alle dem Namen der Nation. Im Übergangsprozeß Osteuropas haben Nationalisten sich besonders Lesben und Schwule für ihre Schmähungen ausgesucht. In Kroatien nannte man Lesben „Verräterinnen an der Nation“, da sie sich weigerten, kroatische Kinder zu gebären. In Bukarest trauerten Politiker vor Homosexuellen um die „Rumänen, die die Welt eroberten durch den angemessenen Gebrauch ihrer Geschlechtsorgane“.

Die langsam zum Vorschein kommenden schwulen und lesbischen Bewegungen bieten nicht nur alternative Identitäten, sondern auch eine andere Perspektive für die Gesellschaft generell. Durch ihre Marginalität weisen sie das Monolithische und Massenhafte zurück. Sie erinnern daran, daß sich gegen den Nationalismus zu wehren heißt, das menschliche Leben als pluralistisches anzuerkennen, das Ich als Vielheit und Vergesellschaftung als freiwillig und vielschichtig zu zeigen.

Eine neue Definition von politischem Pluralismus wäre eine, die eine Gesellschaft nicht nach der Pluralität bestimmter Gruppen, die toleriert werden, definiert, sondern nach der Pluralität von Identitäten, die jedem einzelnen anzunehmen erlaubt sein müssen.

Die Situation, in der Lesben und Schwule sich befinden, ist ein Barometer für die Offenheit einer Gesellschaft. In den sich entwickelnden Demokratien werden sie der Testfall sein für Erfolg oder Mißerfolg von zivilen Gesellschaften.

Scott Long ist Dozent für Literatur und Genderstudies in Budapest und Beauftragter der International Gay and Lesbian Human Rights Commission für Ost-/Mitteleuropa