■ Wieder russische Angriffe gegen Tschetschenien
: Vom Gerne-belogen-Werden des Westens

Seit Dienstag nacht fliegt die russische Luftwaffe „erneute Angriffe auf strategische Stellungen tschetschenischer Truppen“. Die Newsspeech der Agentur ITAR-TASS heißt, in zivile Prosa übersetzt, Wiederaufnahme wahlloser Bombardierungen der Bevölkerung von Grosny, Argum, Gudermes – neue Punkte auf der weltweiten Topographie des Terrors. Wenn Pawel Gratschow, der Verteidigungsminister, am Wochenende vor Waffentechnikern erklärt, „zum ersten Mal standen die Streitkräfte vor der Aufgabe, eine Stadt einzunehmen, ohne dabei großen Schaden anzurichten“, dann wissen alle Beteiligten, daß es um nichts als Sprachregelungen geht, ausgegeben vom „Ministerium der Liebe“.

Aber wir schreiben in Rußland des Jahr 1995 und nicht „1984“. Kein Massenterror zwingt die Menschen mehr dazu, sich der offiziellen Lüge zu fügen. Nicht die Russen, wohl aber die Staatsleute der westlichen Welt sind allzugern bereit, der jeweils letzten Zusicherung der russischen Machthaber Glauben zu schenken. Sie möchten gern belogen werden, sie sehnen sich danach, daß ihre freundschaftlichen Telefonate erhört werden. Den Kritikern entgegnen sie, die Drohung mit Sanktionen helfe nichts. Denn eine solche Politik fördere nur das Wachstum der antiwestlichen und antidemokratischen Kräfte.

Zu Recht hat Ernst-Otto Czempiel (in der taz vom 18.2.) diese Redensarten zurückgewiesen. Er plädiert jenseits der falschen Alternative Sanktionen oder Gewährenlassen für ein Drittes: die Herstellung einer internationalen, kritischen Öffentlichkeit, der sich die Herrschenden Rußlands stellen müßten. Eine solche Öffentlichkeit würde auch die offiziellen Gremien einschließen, auf denen präsent zu sein der russischen Regierung wirklich wichtig ist. Und es wäre notwendig, daß die russische Seite ständig mit der simplen Wahrheit konfrontiert wird. Zum Beispiel, daß es in Tschetschenien nicht um ein kompliziertes Abwägungsmodell zwischen dem Postulat der „Nichteinmischung“ und dem völkerrechtlich weit weniger abgesicherten Anspruch auf Einhaltung der Menschenrechte innerhalb jedes Staates geht. Die Sowjetunion trat 1989 dem zweiten Zusatzprotokoll zum Genfer Abkommen von 1949 bei, in dem das Gebot, Zivilisten bei Kriegshandlungen zu schonen, auch auf bewaffnete Konflikte innerhalb eines Staates ausgedehnt wird. Rußland verletzt also durch die Bombardierungen eindeutig das Völkerrecht und kann sich auf die Nichteinmischungs-Klausel nicht berufen.

Warum von westlichen Staatsleuten, voran denen der USA, so wenig getan wird, um von Rußlands Vertretern öffentlich die Einhaltung schlichter Forderungen des humanitären Völkerrechts einzuklagen? Ganz einfach – sie haben zuviel Dreck am Stecken und fürchten die Selbstbindung, die sich aus allzu forschem Auftreten ergäbe. Christian Semler