■ Schirm & Chiffre
: Im Virtuality Café

Als ich letzthin in einer Stadtzeitung blätterte, sprang mir eine Anzeige ins Auge: Ein adoleszenter Fettklops im Konfirmandenanzug schaut schwermütig durch ein zentnerschweres Kassengestell. Darüber die Worte: „Real life sucks ...“ Darunter der gleiche Fettklops noch mal, jetzt jedoch mit einem Datenhelm auf dem Kopf und einem breiten Lachen auf den Lippen „... try VIRTUAL REALITY“. Derart inspiriert fahre ich zum Adenauerplatz. Das „Virtuality Café“ logiert dort im Erdgeschoß eines häßlichen Bürokomplexes. Es ist Nachmittag. Außer mir, der Chrom- Optik und dem Alu-Mobiliar ist kaum jemand da. Ein Videobeam wirft zuckende Fraktale an die Wand. Unter der Decke zieht ein Laser Kringel. Und wie aufgeblasene und dann in Hartplastik gegossene Autoscooter sind da noch – die VR-Maschinen.

Hinter dem Tresen stehen Sascha und Marc. Die beiden sind offensichtlich erst vor kurzem volljährig geworden. Sie fungieren hier als Einweiser, Geschäftsführer und Kellner in Personalunion. Bereitwillig schnallen sie mich in die Dactyl-Nightmare-Maschine. Eine Art riesiger Eierbecher, wobei man selbst sozusagen das Ei ist. Ich bekomme ein Headset über den Kopf gestülpt und eine Plastikpistole in die Hand gedrückt. Ab jetzt wird meine audiovisuelle Wahrnehmung vom Computer gespeist. In den folgenden Minuten stolpere ich dann – virtuell natürlich – durch ein grobgepixeltes Labyrinth, immer auf der Suche nach blauen Eiern, die ich von hier nach dort bringen muß, um Punkte zu kassieren. Gelegentlich hebe ich meine Plastikpistole und schieße auf eine der anderen Figuren, die mir meine Eier abspenstig machen wollen. Komischerweise habe ich Schwierigkeiten mit der Motorik und knalle immer wieder – Peng! – gegen die virtuelle Wand, was zu einem häßlichen Knirschgeräusch in den Headphones führt.

Ich habe es gerade mal zu drei lumpigen Eiern gebracht, da beendet der Computer meinen Osterspaziergang (4 Minuten für 7 Mark). Benommen zerre ich das Headset vom Kopf und schaue verlegen ins real life. Ich bestelle einen „Cyber Cocktail mit Guarana“ (schmackhaft!), mache einen Kontrollgang durch die Toiletten (ordentlich!) und werfe einen Blick hinter den Tresen (besenrein!). Mal abgesehen vom Cyberspace ist das hier ein ganz normales Café. Am Nebentisch spielen vier Youngsters Karten. Auch eine Form, sich die Langeweile zu vertreiben. Martin Muser