Kein Streit, keine Vorwarnung, nichts

In der Vorstadt von Marseille erschießen Plakatekleber der rechtsextremen Front National einen schwarzen Jugendlichen / Täter flüchtig / Le Pen wittert Medienkampagne  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Ibrahim Ali war auf dem Heimweg von einer Rap-Session, als ihn die tödliche Kugel traf. Zusammen mit anderen Musikern hatte der 17jährige den Bus genommen und war kurz vor Mitternacht am Dienstag in der nördlichen Vorstadt von Marseille angekommen, wo er zu Hause ist. Die Jugendlichen gingen über die Straße, als das Feuer auf sie eröffnet wurde. Ein Schuß traf Ibrahim Ali in den Rücken. Seine Mörder flohen in zwei Wagen. An den Mauern der Vorstadt hinterließen sie ihre noch kleisterfeuchten Plakate für den Präsidentschaftskandidaten der rechtsextremen „Front National“: „Votez Jean-Marie Le Pen!“ „Es gab keinen Streit, keine Vorwarnung, nichts“, sagen Zeugen, die das Geschehen von der benachbarten „Bar Modern“ aus beobachteten, „Ibrahim Ali starb, weil er schwarz war“. Der Barbesitzer hat sich die Autokennzeichen der Fluchtwagen notiert. Einer der beiden Wagen, ein grauer Renault 18, war ihm bereits von einem anderen Zwischenfall vor anderthalb Monaten bekannt. Auch damals waren Plakatekleber der Front National in die Vorstadt gekommen. Dort leben viele Immigranten, und 20 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung geben ihre Stimme der Front National. Direkt neben der Bar Modern griffen die Plakatekleber damals eine Gruppe von nordafrikanischen Jugendlichen an. Der Barbesitzer verständigte die Polizei, die verfolgte die Angelegenheit offenbar nicht weiter. „Leider“, sagt er.

Die Freunde von Ibrahim Ali stammen wie der Ermordete selbst von den Komoren, einer ehemaligen französischen Kolonie vor Ostafrika. Ihre Angaben in den stundenlangen Polizeiverhören decken sich mit den Beobachtungen der Barbesucher: Der Jugendliche wurde von Plakateklebern der Front National ermordet.

Die Front National (FN) bestreitet eine Verwicklung ihrer Leute in den Mord. „Es gibt immer Manipulationen in Wahlkampfzeiten“, sagt ihr Sprecher Alain Vizier am Morgen nach dem Mord. Vorerst gebe es „nichts als die Zeugenaussagen von ein paar Komorern“. Damit hält er die Angelegenheit für erledigt. Kein Wort des Bedauerns, und schon gar keine Mahnung an die Anhänger seiner Organisation. FN-Präsidentschaftskandidat Le Pen selbst wittert bereits eine neuerliche Medienkampagne gegen seine Kandidatur. Die Radioberichte über den Tathergang bezeichnet er als „suspekt“ und fordert die Journalisten zu „ein bißchen Mäßigung“ auf.

Der Schütze von Marseille war offenbar kein Einzeltäter. Die Polizei fand neun Kugeln aus drei unterschiedlichen Waffen am Tatort. Das Waffentragen ist in Frankreich verboten, aber es ist bekannt, daß die Plakatekleber der Front National nicht wehrlos auf die Straße gehen. Sie werden oft mit Baseballschlägern und Tränengasbomben angetroffen. Daß sie Pistolen tragen, ist neu.

Ibrahim Ali ist das erste Opfer des Präsidentschaftswahlkampfes in Frankreich. Ein paar Anti-Rassismus-Gruppen und linke Parteien in Marseille riefen gestern zu einer ersten Demonstration am Tatort auf. Die großen Parteien und ihre Präsidentschaftskandidaten hielten sich bedeckt. Nur der neogaullistische Kandidat Jacques Chirac, gab gestern eine Erklärung ab. Er nannte den Mord ein „unentschuldbares, unerklärliches und unzulässiges Drama“.