Entlassungen gegen Ertragsdelle

Jahresüberschuß bei Siemens um 17 Prozent gesunken / 17.000 Jobs im Inland gestrichen / MOX II wird offenbar weitergebaut  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

München (taz) – Der heute mit der Frühschicht beginnende Streik in der bayerischen Metallindustrie schmeckt dem Vorstandsvorsitzenden der Siemens AG, Heinrich von Pierer, überhaupt nicht. Der Elektronik- und Energieanlagenbaugigant von der Isar starte nämlich nach dem zurückliegenden harten Rezessionsjahr gerade wieder durch, so von Pierer gestern auf der Hauptversammlung der AG in München. Da könnte ein langer Streik in Bayern den sensiblen Konzernmotor schnell wie ein Kolbenfresser lahmlegen. Sechs Prozent mehr würden den Konzern per annum mit mehr als einer Milliarde Mark an Lohnkosten belasten und bis zu 15.000 Arbeitsplätze gefährden, drohte von Pierer. Schnell aussperren und dann gezielt mit der IG Metall verhandeln, so heißt deshalb die vom Vorstandsvorsitzenden ausgegebene Parole an die Adresse der Unterhändler der bayerischen Metall- und Elektroindustrie.

Doch nicht nur die zum Streik entschlossenen Metaller haben die Nerven nicht nur von Herrn von Pierer blank gelegt. Vor der Olympiahalle protestieren ungewöhnlich viele Atomkraft- und PlutoniumgegnerInnen gegen Siemens. „Darunter selbst Bundestagsabgeordnete“, wie der Vorsitzende des Aufsichtsrates, Hermann Franz, in seiner Eröffnungsrede empört anmerkte. Die sollten doch besser nach Moskau fahren und bei Boris Jelzin gegen die wackligen Atommeiler der Ex-UdSSR demonstrieren, echauffierte sich auch ein Sprecher der „Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre“ (SdK): „Geht doch nach drüben, denn dort gehört ihr hin!“ Traditionell sagte Vorstandsboß von Pierer in seinem Rechenschaftsbericht auch dieses Mal kein Wort etwa zur Zukunft von MOX II in Hanau oder zu den Zielen von Siemens bei den anstehenden Energiekonsensgesprächen in Bonn.

Immerhin hatte das Vorstandsmitglied von Siemens, Josef Hüttl, im Vorfeld der hessischen Landtagswahlen erklärt, daß der Konzern für den Fall einer Fortsetzung der rot-grünen „Ausstiegskoalition“ sich von der Produktion von MOX-Brennelementen aus Uran- und Plutonium in Hanau endgültig verabschieden werde. Zur Zeit ist Siemens schon dabei, die Produktion „konventioneller“ Brennelemente in das europäische Ausland und in die USA zu verlagern. Doch CDU/FDP-Wahlkampfhelfer Hüttl scheint nur für Hüttl und nicht für den Konzern gesprochen zu haben. SPD und Grüne haben in Hessen zwar die Wahl gewonnen. Doch die Anlage „MOX neu“ in Hanau, die zu 85 Prozent fertig ist, werde zu Ende gebaut, sagte ein Konzernsprecher gestern zur taz. Ob die Fabrik dann auch in Betrieb genommen werden könne, hänge nicht von Siemens ab, sondern von der Aufsichts- und Genehmigungsbehörde: der rot-grünen hessischen Landesregierung.

An der „Ertragsdelle“, wie von Pierer sich ausdrückte, hat der Konzern noch lange zu knabbern. Nur durch außerordentliche Erträge, etwa den Verkauf der Herzschrittmacher-Aktivitäten, konnte Siemens den Jahresüberschuß aus 1992/93 knapp übertreffen. Ohne solche Verkäufe wäre ein Minus von 17 Prozent zu konstatieren gewesen – bei gleichzeitig um 4 Prozent gestiegenen Umsätzen. Eine „bedenkliche Entwicklung“, merkten diverse AktionärssprecherInnen an.

Von Pierer sprach von einer „schwierigen Umstrukturierungsphase“, in der sich der Konzern zur Zeit befinde. „top-Initiative“ heißt das Programm, mit dem der Vorstand konzernweit die Produktivität erhöhen, die Innovationen beschleunigen, die Unternehmensstruktur verändern und neue Märkte erschließen will. Einer der alten „neuen Märkte“ ist offenbar die Rüstungsindustrie. Siemens will in Zusammenarbeit mit der Daimler-Benz Aerospace AG das Kommunikations- und Leitsystem für ein neues transatlantisches Luftabwehrsystem entwickeln.

Die top-Initiative habe in den ersten Monaten des laufenden Geschäftsjahres 1994/95 bereits Wirkung gezeigt, sagte von Pierer. Belastungen durch Preisverfall und steigende Kosten in den von der Elektronik geprägten Konzernbereichen hätten ausgeglichen werden können – vorwiegend durch den Abbau von rund 17.000 Arbeitsplätzen im Inland. Im laufenden Geschäftsjahr sollen noch einmal 5.000 SiemenswerkerInnen entlassen werden. Ob sich die top- Initiative im Personalabbau erschöpfe, fragten nicht nur kritische AktionärInnen den Vorstand. Von Pierer blieb eine Antwort schuldig. Die rund 5.000 anwesenden von insgesamt 85.000 KleinaktionärInnen (46 Prozent) waren trotzdem zufrieden. Denn trotz Krise schüttet der Konzern 13 Mark Dividende pro 50-Mark-Aktie aus.