Drei Erdbeeren für Monte Carlo

■ Ein Ausflug in die Bremer Cyberprovinz: Vom ersten „Cyberworkshop“, den ersten Cyberbruchpiloten und dem unbezwingbaren Spieltrieb im Manne

Auf dem Datenhighway ist mal wieder die Hölle los. Mordsgetöse aus dem Motorraum, im Cockpit dröhnt Heavy-Metal-Irrsinn, links und rechts fliegen die Hochhausfassaden von Technotown vorbei. So rauscht Winnie in seinem Turboschlitten davon, durch Zeit und Cyberspace.

Bzw. durch den Konferenzraum des Bremer „World Trade Centers“. Dort nämlich steht die neue Wunderkiste für den Cyberspacepiloten: die „Playstation“ der Fa. Nintendo. Der Form nach könnte man sagen: ein Waffeleisen mit Fernsehanschluß. Man könnte auch sagen: ein simples Computerspiel. Winnie Forster aber sagt: „Ohne jeden Hype – das Ding ist mächtiger als alles, was es vorher auf dem PC-Markt gab!“ So brillante Farben! So fetter Sound! So „fotorealistische Grafik“! Da drückt es sein Publikum glatt in die Konferenzsaalsitze. Ganz ohne Simulation, ganz in echt.

Neben Winnie, dem Fachmann, hat sich eine kleine Crew von angehenden Cyberspacepiloten im Saale eingefunden, zum ersten „Cyberworkshop“ des Städtchens. Dem Aufruf eines rührigen lokalen Elektronikhändlers sind zumeist junge Männer gefolgt. Computerfreaks wie Frank, der seine Karriere als „Systemberater“ mit den nötigen Basisinformationen fundieren will; technisch versierte Studenten wie Patrick, der ebenfalls schon in die berufliche Zukunft schaut: Wie, wenn Architektur nicht mehr am Reißbrett, sondern am Computer gebaut wird? Als fesche, allseits begehbare Computeranimation? Und was heißt das eigentlich: „Virtual Reality“ und „Cyberspace“?

Da weiß der Kulzer Rudy Rat. Neben Winnie firmiert er als zweiter Cyberfachmann des Work-shops. Und er weiß nur zu gut um die Nöte der kleinen und gemeinen Leute in der Cyberprovinz. Denn es fliegen im virtuellen Raum ja nicht nur ständig die Fetzen, „da fliegen auch ständig soviel Wörter rum“ und soviel Begriffe durcheinander sowieso. Das Präfix „Cyber“ zum Beispiel: „Überall wird es doch als Markenzeichen draufgeklebt“, sagt Rudy. Cybersex, Cyberpunk... das verkauft sich halt gut. Rudy muß es wissen: Seine Visitenkarte weist ihn als „Journalist und info-broker“ aus.

So zieht er durch die virtuelle Welt, von Neuigkeit zu Neuigkeit, taucht da und dort mal in der realen Welt auf, um die Dinge klarzustellen. Was nämlich ist denn so eine „virtual reality“? Kulzers Definition: eine „künstliche Scheinwelt aus Computermodellen in Anbindung an den Betrachter oder Interakteur“. So. Der „Cyberspace“ hingegen ist was ähnliches, nur ganz anders; überhaupt möchte Rudy lieber von „Cybercommunity“ sprechen, der virtuellen Gemeinde aller Computerweltbürger. Mit solchen Utopien aber hat die kleine Bremer Community nicht viel am Hut. Denn trotz aller guten Vorsätze bricht sich doch der Spieltrieb immer wieder Bahn: Wieviel kostet denn nun so ein Datenhelm? Immer noch 2000 Mark? Und vor allem: Wie kommt der sterbliche Bremer User jetzt schon an Nintendos „Playstation“ ran? Ach, in Japan gibt's das Wunderding schon wieder zum Schleuderpreis, läppische 600 Mark...

Das ist Winnies Stunde. Daß man im Cyberspace durchaus nützliche Anwendungen finden kann; daß man in der Tat ganze Hochhäuser als 3-D-Modell erschaffen oder Crashtests künftig simulieren kann, statt die Blechkisten realiter zu Schrott zu fahren – geschenkt. Winnie ist auch info-broker. Aber einer, der das alte Streben nach Verbesserung der Welt durch die Wunder der Technik längst überwunden hat. Winnie reist von Messe zu Computermesse, um den Menschen die spielerische Seite des Cyberspace nahezubringen. Nämlich: die 3-D-Brille mit Gameboy-Adapter, wo demnächst „die Spiele direkt auf der Netzhaut stattfinden“. Oder: „Bodytracking“, eine Software, mit der die Bewegungen des Users per Datendress auf z.B. auf eine Trickfilmfigur übertragen werden können – so kann Bugs Bunny künftig nach Winnies Pfeife tanzen bzw. mümmeln.

Und was der Wunder mehr zu preisen sind – Winnie kennt sie alle. Den Bremer Cyberworkshoppern zeigt er – leider nur in einer kleinen Diareihe – Bilder einer virtuellen Rallye Monte Carlo. Im Prinzip auch bloß ein Computerspiel, der Hit aber: Es kann aus dem Kabel-TV-Netz abgezapft werden. So können die User künftig vom heimischen Fernsehsessel aus um die Wette rasen. „In Echtzeit-Simulation“, wie Winnie immer wieder schwört. Und statt Beulen erntet der Spieler drei Erdbeeren, als virtuelle Siegesprämie.

So wären dann wohl alle Fragen und Probleme rasch beseititgt. Und die Cyberkundschaft wäre mit Cyberware gut angefüttert, um nun in die nächstbesten Cybershops zu stürzen. Wenn da nicht Frager wie Frank im Raume säßen: „Diese Spielekonsolen sind ja am Anfang immer ganz nett“, sagt er; „aber der eigentliche Reiz ergibt sich doch erst, wenn man mit anderen Leuten zusammen spielen kann, möglichst in einem Raum.“ Tja – das geht leider dann doch nicht, gibt Winnie zu. Noch nicht! „In fünf, sechs Jahren, mal ganz ohne Spekulation“, gibt er seine Echtzeitschätzung ab.

Bis dahin wird es ohnedies noch genug Herausforderungen geben. Zum Beispiel, das fliegende Waffeleisen unters Cybervölkchen zu kriegen. Kaum ein Karstadt-Fachverkäufer, jammert Winnie, sei heute in der Lage, die Cyberdinger gescheit anzupreisen; überhaupt: diese verfluchten „down-to-earth-Problematiken“ mit dem Verkauf! Daß man sowas nicht schon virtuell abwickeln kann...

Die banalen Alltags-, Berufs- und Allerweltsfragen der Teilnehmer sind längst vergessen. Übrig bleiben die neuen „Spiele und Maschinen“. Wer da noch Probleme hat: Auf zur nächsten CeBit, „eine Messe, die sicher down-to-earth ist“, weiß Winnie. Sehr „low-end-orientiert“ eben. Da gebe es die neuen Beschleunigungskarten und Cyberhelme und demnächst dann wohl auch die Nintendo-„Playstation“. Wer sich gescheit informieren möchte über den state-of-the-art, der aber fahre gleich in die USA. Winnie und Rudy empfehlen zum Schluß einhellig die „Siggraph“-Messe. Die in Orlando, Florida. „Halt“, wirft Rudy ein. „Die zieht doch immer rum.“ Findet die Cybermesse heuer nicht vielmehr in L.A. statt? Die Fachleute, plötzlich orientierungslos. „Ich prüf' das nach“, hadert Rudy; „rufst mich halt an, wer's wissen will...“ Aber nicht per Telefon, sondern auf der Datenautobahn: Rudys Visitenkarte weist den Weg – drei Computeranschlüsse sind dort aufgeführt, irgendwo im Cyberspace. Thomas Wolff