Der Geist, den man begreift

Theater für Trillionen spielt Frank Wedekinds „Lulu“-Dramen  ■ Von Petra Kohse

Frank Wedekinds Lulu ist keine Frauenfigur, sondern ein Sinnbild der Lust. Folgerichtig sieht jeder in ihr sein erotisches Ideal und gibt ihr einen anderen Namen. „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir“, sagt der Erdgeist in Goethes „Faust“ – und „Erdgeist“ heißt auch der erste Teil des Lulu-Dramas, das Wedekind vor hundert Jahren veröffentlichte. Dieser brillante Spießerschreck, der wegen Majestätsbeleidigung 1899 sogar in Festungshaft mußte, war ein Erotomane und dabei hochmoralisch. Verdrängung der Lust hielt er für verderblich, und in der wilhelminischen Gesellschaft bewegte er sich mit seinem Spott und missionarischen Eifer wie ein Hecht im Karpfenteich.

Die Männer und die eine Frau, die er in seinen Dramen Lulu begegnen läßt, gehen allesamt an ihr zugrunde. Aber auch Lulu geht zugrunde, eine Entwicklung, die im zweiten Teil, „Die Büchse der Pandora“, geschildert wird. Lulu ist die Unschuld, aber die Verhältnisse, die sind nicht so. Sie wird gezwungen, sich zu verkaufen und wünscht sich perverserweise schließlich, einem Lustmörder in die Hände zu fallen. Und so geschieht's – ein Freitod sozusagen.

Was Wedekind sagen wollte, sagt er nicht. Er war ein Meister der Leerstelle, des bedeutungsschweren Gedankenstrichs, des vielsagenden Halbsatzes. Die Zensur umging er mit einer genialen Camouflage-Technik, davon lebt das Stück, und darunter leidet es. Als sein Stachel noch sitzen mußte, wurde es nicht verstanden, seit es verstanden wird, sticht es nicht mehr. Die Lulu-Tragödie ist heutzutage eher eine traurige Komödie.

Das Theater für Trillionen zeigt eine stark verkürzte Fassung in der Regie von Ulf Brandstädter. Die Mittel sind bewußt reduziert. Neben Gudrun Herrbold als Lulu spielen Gabriella Crispino, Utz Krause, Dirk Borchardt und Armin Zarbock alle Rollen. Auf der breiten Bühne des Theaters am Halleschen Ufer markiert Stefan A. Schulz alle Szenen mit einem schwarz-silbernen Tuch, das oft wie eine Brecht-Gardine halbhoch gehängt ist und bei Bedarf auch den Boden bedeckt. Wenn die DarstellerInnen nicht spielen, begeben sie sich an einen Tisch an der Seite, dort sitzen auch diejenigen, die für die Kostüme und die Geräusche von Ohrfeigen oder einer berstenden Tür zuständig sind. Das Theaterhafte wird ausgestellt und lustvoll bedient.

Rasante Rollenwechsel, gelungene Chargen, zuweilen gebetsmühlenartiges Sprechen bestimmen die Inszenierung. Brandstätter vertraut dem Text aber nicht ganz. Pointen, die sexuell verstanden werden können, läßt er so sprechen, daß sie sexuell verstanden werden müssen. Das befremdet und langweilt. Durchaus zeitgemäß ist indessen der Ersatz des Lulu-Gemäldes durch eine Fotografie. Statt auf das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunstprodukt, das Wedekind mit dem von allen als authentisch anerkannten und doch aus der sexuellen Phantasie des Malers entstandenen Porträt thematisiert, verweist der Regisseur stärker auf die Rezeption von Abbildern als Idole.

Gudrun Herrbold als Lulu muß sich Naivität erspielen. Das berührt anfänglich peinlich – gerade so, als säße man einer erwachsenen Frau gegenüber, die einen Haargummi mit Kirschen trägt. Im Laufe der Inszenierung gewinnt sie aber an Ausstrahlung. Sie vergißt dann das Kindchenschema und spielt einfach eine Frau, die zu ihrer Lust steht. Aber nicht die Darstellerin der Lulu hebt die Aufführung über eine gutgemachte Klamotte hinaus, sondern Gabriella Crispino.

Sie hat als Gräfin Geschwitz die einzige Charakterrolle. Die Tragödie eines „verstümmelten“, „im Mutterleib nicht fertig gewordenen“ weiblichen Mannes, die Wedekind dieser Figur aufgegeben hat, macht auch eine nichtlesbische Zuschauerin aggressiv, aber Crispino spielt das auf eine – nun ja – allgemein menschliche Art so glaubwürdig, daß dieses Bild im Sinn bleibt: wie sie nach einem mißglückten Selbstmordversuch im Unterrock auf dem Boden kniet, den Hals noch in der Schlinge und mit hoffnungsvoll aufgerissenen Augen ganz unpathetisch sagt: „Ich soll noch nicht fort. Ich soll vielleicht auch einmal glücklich gewesen sein.“

Weitere Vorstellung: bis 5. 3. (außer montags), 19.30 Uhr, Theater am Halleschen Ufer, Kreuzberg.