: Epilog zum Ersten Deutschen Fernsehen?
Aus einer Zeit, da das Erste noch das einzige deutsche Fernsehen war... Ein frühes Kapitel aus der Mythologie der Bundesrepublik ■ Von Michael Rutschky
Als alles anfing, 1953, veröffentlichte eine Fachzeitschrift unter dem Titel „Prolog zum Fernsehen“ eine Prophetie, die ihren Pessimismus, das neue Massenmedium betreffend, aus dem Vergleich der TV-Bilder mit solchen der hohen Kunst gewann.
„Was längst der Symphonie geschah“, hieß es darin, „die der müde Angestellte, in Hemdsärmeln seine Suppe schlürfend, mit halbem Ohr toleriert, geschieht nun auch den Bildern. Sie sollen seinem grauen Alltag Glanz spenden und doch ihm selber wesentlich gleichen: So sind sie vorweg vergeblich.“
1953 – da war ich zehn Jahre alt – hatte ich den Aufsatz natürlich noch nicht gelesen. Aber ich hatte mein erstes Fernseherlebnis. Irgendwie Auserwählte versammelten sich oben auf dem Schloßberg, wo einzig in der Mittelgebirgslandschaft Nordhessens überhaupt etwas zu empfangen war, im sogenannten Kavaliershaus, und suchten in dem knatternden Schneegestöber des Bildschirms ein hochbedeutendes politisch-religiöses Ereignis zu entziffern, die Krönung von Königin Elisabeth II. im Westminster Abbey...
Betrachte ich dieses mein erstes Fernseherlebnis in der Manier, nach welcher Sigmund Freud unsere nächtlichen Träume zu analysieren gelehrt hat, so bekommt man eine Menge über das erste Fernsehen in der Bundesrepublik zusammen. Erst dann kann man ermessen, wie grundstürzend gerade konservative Politiker mit ihren Abschaffungsplänen in seelische Tiefenschichten der Republik hineinregieren wollen. Tiefenschichten, die ihren eigenen Konservatismus prompt in den demoskopischen Daten zur Darstellung brachten, überwältigende Mehrheit für den Erhalt. Bekanntlich neigen gerade konservative Politiker zu besonders radikalen Modernisierungsmaßnahmen.
Königin Elisabeth. Daß in meiner kleinen nordhessischen Stadt das Fernsehen ausgerechnet mit ihrer Krönung eröffnet wurde, findet die Traumlogik voll gerechtfertigt.
Denn dieses Fernsehen kam vom damals noch ungeteilten NWDR aus Hamburg, und dieser NWDR folgte in organisatorischer Struktur und programmatischer Orientierung entschieden dem Vorbild der britischen BBC. Insofern durften wir beinahe als ihre Untertanen der Krönung Elisabeths zuschauen – die tiefe Loyalität, die weite Teile der deutschen Tanten-, Mutter- und Großmutterschaft mit ihr verbindet, paßt in dieses Bild.
Weil wir also von vornherein mit dem großbritannischen statt mit dem US-amerikanischen Fernsehen befaßt waren, das als öffentlich-rechtliche unbedingt auch die moralische Anstalt gab, dem prodesse ebenso wie dem delectare verschrieben, fehlte Adornos pessimistischer Prophetie der Erfahrungshintergrund, und ich habe sie später nur aus Pflichtgefühl für wahr gehalten.
Auch lehrt der Schloßberg, der mit der Königskrönung so glänzend zusammenpaßt, als Traumelement verstanden, wie lange das Fernsehen eben nicht ein gleichgültiges Element des Alltagskontinuums in der frühen Bundesrepublik war.
Jeden Abend erhöhte das Fernsehen seine Zuschauer. Meine Familie besaß kein Gerät, und so beschränkten sich meine Fernseherlebnisse auf zufällige Besuche bei glücklicheren Nachbarn und Freunden. Später wohnten wir im Hause von solchen, und es war erlaubt, nach elterlichem Studium des Programms bei der Nachbarin anzuklopfen, ob vielleicht auch sie heute abend...
Weil nicht nur Adornos, sondern viele andere Prophetien dazu die Luft erfüllten, das Gefährliche des Fernsehens betreffend – bis hinunter zu den bläulichen Strahlen, die vielleicht deine Augen vergiften –, bedeutete der Fernsehabend stets ein leises unsittliches Vergnügen. Mir verdichtet sich diese Unsittlichkeit in einer Ausstrahlung von Federico Garcia Lorcas Thaterstück „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“. Als ich bei der Frau Nachbarin anklopfte, ob ich mitsehen dürfe, besetzte mich, als ich den Titel aussprach, einen kurzen, schamerfüllten Augenblick lang die Idee, ich wolle doch wohl in dem Garten einem Geschlechtsverkehr zuschauen. Die Nachbarin ließ mich dann allein – sie widmete sich den illustrierten Frauenzeitschriften, was sie aus den Königs- und Adelshäusern der Welt zu erzählen hätten.
Drittens handelte es sich bei dem Ereignis, dem die Auserwählten auf dem Schloßberg staunend beiwohnten, um eine Live-Übertragung, die eigentlich, trotz des magisch-religiösen Inhalts, eine Nachrichtensendung war (Adorno hatte ausschließlich Filme und Serien vor Augen). So erklärt die Traumlogik, wieso immer noch die Mehrheit das Erste Deutsche Fernsehen mit der „Tagesschau“ identifiziert und einzig ihr die wahrhaftige Chronik der laufenden Ereignisse zutraut. Wer bei einem derart exklusiven Ritual wie der Krönung einer Königin anwesend sein darf, muß über jeden Zugang zu den Weltereignissen verfügen.
„Damit Fernsehen das Versprechen hält, das in dem Wort immer noch mitschwingt“, schließt Adorno seinen pessimistischen Prolog – aber ich denke, daß das Fernsehen der frühen Jahre in der Bundesrepublik, wie mein Exempel lehrt, gerade dieses Versprechen gehalten hat, von einem erhöhten Platz aus an seltenen Abenden hochbedeutenden Ereignissen in weiter Ferne zuzuschauen. War das ingesamt die Position der Bundesrepublik in jenen Jahren?
Jedenfalls wurde das öffentlich- rechtliche Fernsehen in der BRD, dessen Archetyp das erste Programm der ARD bildet, von Leuten gemacht, die, oft auf lächerlichste Weise, von schweren Befürchtungen erfüllt waren, wie das Fernsehen auf die Volksseele wirke. Adorno war nicht der externe Kritiker, dem eh keiner zuhört, seine Prophetie erschien in einer Fachzeitschrift. Der erste Intendant des ZDF – mit dem Image eines skrupellos populistischen Regierungssenders, Bundeskanzler Adenauer wollte ja dem Rotfunk der ARD steuern –, der erste Intedant des ZDF war ein onkelartiger Philosophieprofessor.
Delectare et prodesse. Nie sollte das deutsche Fernsehen Unterhaltung ohne Belehrung bieten; die ARD orientierte sich an Schillers Aufstellungen zur Schaubühne als moralischer Anstalt, den Ideen der Weimarer Klassik zum Nationaltheater. Weil stets Befürchtungen von Unsittlichkeit das bläuliche Licht begleiteten, konnte es tatsächlich – wie schon mein Lorca- Beispiel lehrt – den Schimmer des Verbotenen annehmen. Als die Privatsender kamen, fiel er vollständig an sie.
Ich habe keine klare Vorstellung, was zu wünschen wäre. Daß die konservativen Parteien durch Abschaltung des Ersten ihre Stimmanteile sichern, gar erhöhen, halte ich für unwahrscheinlich. Daß das Erste wieder zum einzigen wird, wenn es nur tüchtig mit den Privaten konkurriert, aber ebenso. Eher habe ich den Eindruck, daß ihm noch unklar ist, wie man das macht – gern würde ich mal genau darüber informiert, wie die BBC, Mutter aller moralischen TV-Anstalten, sich so erfolgreich reformierte.
Um die Verwirrung mit einem letzten Stück Traumlogik abzurunden: Adornos müder Angestellter, der, in Hemdsärmeln seine Suppe schlürfend, ein Fernsehprogramm laufen läßt, er stammt als emblematische Figur aus einem B-Picture, schwarzweiß. Und wir TV- Feinschmecker schlürfen seinen Zauber heutzutage am leichtesten auf irgendeinem billigen Privatkanal, der sich nur antike B-Pictures auszustrahlen leisten kann.
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