Die Menschen verlassen Nigeria, wenn sie können

■ Ob Muslim, ob Christ, ob selbsternannter Jude – die Ausübung religiöser Pflichten gilt als probates Mittel zur Ausreise aus dem krisengeschüttelten Land

Bonn (taz) – Für einen gläubigen Muslim ist es Wunsch und religiöse Pflicht, mindestens einmal im Leben nach Mekka zu pilgern. Für afrikanische Muslime, die ja immer zahlreicher werden, bietet dies eine goldene Möglichkeit, sich in den arabischen Ländern eine neue Existenz aufzubauen oder von dort weiter nach Europa und in die Vereinigten Staaten zu gelangen; besonders Nigerianer tun sich darin hervor. Da der Status der „Pilger“ nach Ablauf des Visums illegal ist, bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als sich mit Geld- oder sogar Drogengeschäften über Wasser zu halten. „In manchen Ländern sind Nigerianer zu solch einem Ärgernis geworden, daß diese sie mit Sondergesetzen verfolgen“, beschreibt der nigerianische Bürgerrechtler Frederik Fasehun von der verbotenen Labour-Partei die Situation.

Seit Jahren werden immer wieder einzelne illegale Nigerianer im Nahen Osten oder in Europa aufgegriffen. Doch seit Oktober letzten Jahres „ist aus dem Tröpfeln ein Strom geworden“, wie es der Journalist Toye Olori ausdrückt. Die Menschen, die das Land verlassen, sind keine ausgewiesenen Gegner des Regimes oder Anhänger der immer noch aktiven Demokratiebewegung. Es sind in der Regel junge alleinstehende Männer, die versuchen, auf dem Wege einer Pilgerreise dem Land für immer den Rücken zu kehren.

Gegen den aktiven Teil der Opposition geht das Regime des Sani Abacha mit brutaler Härte vor. Die Pässe der Regimegegner einzubehalten ist dabei noch das harmloseste Mittel. In der Regel werden die Kritiker einfach eingesperrt oder – wenn sie nicht prominent sind – umgebracht. Die gefürchtete „Preposition 12“ erlaubt es der Polizei, jemanden ohne Begründung für mindestens 90 Tage hinter Gittern verschwinden zu lassen.

Pilgertouren als Fluchthilfe

Viel schwerer ist es jedoch für die Behörden, eine als Pilgerreise getarnte Flucht zu verhindern. Religion zu praktizieren hat in Nigeria einen hohen Stellenwert und wird vom Staat unterstützt. Es muß ja nicht immer der Islam sein – Nigeria hat den Vorzug, ein Land vieler Religionen zu sein. Und auch die Christenheit kennt heilige Stätten, in die man emigrieren kann.

In diesem Zusammenhang ist besonders Jerusalem von Bedeutung, da die europäischen Stätten des Christentums für Afrikaner ohnehin unerreichbar sind. In einem Interview sprach der Außenminister Nigerias, Athony Ani, von regelrechten Fluchthilfeorganisationen im christlichen Gewand, die 10.000 Naira (rund 400 US-Dollar bei offiziellem Wechselkurs) für ihre Reisedienste Richtung Jerusalem verlangen. In Israel verschwinden die teuren Pilger anschließend zu Dutzenden. Außenminister Ani drohte, die staatliche Unterstützung für die Pilgercamps zu streichen und statt dessen von jedem Jerusalempilger einen Betrag von 2.000 Naira (rund 80 US-Dollar) einzufordern.

Fasehun dagegen zeigt Verständnis. „Vor 15 Jahren kamen viele Afrikaner aus anderen Ländern hierher. Sie sahen Nigeria als das afrikanische Eldorado. Aber wo keine Gerechtigkeit existiert, gibt es keinen Frieden, wo kein Frieden ist, kann kein Fortschritt sein. Wir werden erleben, daß noch mehr Menschen das Land verlassen“, so seine Prognose.

Wie recht er damit hat, zeigt eine weitere Geschichte: Der Oberste Gerichtshof Israels hat unlängst die Klage eines Angehörigen des nigerianischen Ibo-Volkes abgewiesen, der versucht hatte, als Jude anerkannt zu werden. Nach israelischem Recht dürfen alle Juden nach Israel einwandern. Teile der insgesamt 17 Millionen Menschen zählenden Ethnie der Ibo, die vorwiegend im Südosten Nigerias lebt, betrachten sich als Nachfahren eines verschollen geltenden jüdischen Stammes. Tatsächlich beachten sie die jüdischen Reinheits-, Essens- und Ehevorschriften. Die spektakuläre Einbürgerung Tausender äthiopischer Falaschen nach Israel vor einigen Jahren hatte den Ibo wohl zu seiner Eingabe an den Obersten Gerichtshof inspiriert. Uwe Kerkow