Ernst, aber nicht hoffnungslos

Die Kulturen der Welt begegnen sich in Berlin-Kreuzberg: Am Freitag begegneten sich die örtlichen PDS-Genossen und Sahra Wagenknecht aus Berlin, Ex-Hauptstadt der DDR  ■ Aus Berlin Christoph Seils

„Wir dürfen nicht das Handtuch werfen“, beschwört Sahra Wagenknecht zum Abschluß des Abends ihr Publikum und erntet noch einmal kräftigen Beifall. Die Sache des Sozialismus stehe auf dem Spiel, und „wenn die PDS kaputt ist“ – wenn sie sich von den „systemkonformen Parteien“ habe integrieren lassen –, „dann fangen wir wieder bei Null an“.

Der Sache des Sozialismus haben sich auch 71 Kreuzberger PDS-Mitglieder verschrieben, und seit die PDS im Berliner Mythos- Bezirk bei den Bundestagswahlen im letzten Oktober 7,5 Prozent der Stimmen einfahren konnte, träumen die PDS-Strategen davon, auf dem Umweg über Kreuzberg endlich auch im Westen des vereinten Deutschland Fuß zu fassen. Bei den Wahlen zu den Bezirksparlamenten, die im Oktober zeitgleich mit den Berliner Abgeordnetenhauswahlen stattfinden, wollen die Kreuzberger Sozialisten das Rathaus erstürmen. Doch bevor man in die Niederungen der Kommunalpolitik hinabsteigt, muß zunächst geklärt werden, wo die PDS eigentlich steht, irgendwo „zwischen Kreuzberg und Godesberg“, heißt es in der Ankündigung. Zur Positionsbestimmung wurde am Freitag abend als profunde Expertin die Genossin Sahra Wagenknecht von der Kommunistischen Plattform nach Kreuzberg gebeten. Schließlich wurde sie unlängst von einer westdeutschen Lokalzeitung zu einer der „größten lebenden Kommunistinnen“ gekürt. Punkt halb acht rutscht Sahra Wagenknecht nervös auf ihrem Stuhl hin und her, im Osten wird pünktlich begonnen. Doch das PDS- Büro in einem Gewerbehof ist noch halb leer. Nur schleppend füllt sich der Saal. Zum Kreuzberger Lebensgefühl gehört es auch, bei der Kleidung Weltanschauung zu zeigen. Der Kreuzberger trägt schwarze Lederjacken, stone- washed Jeans, selbstgestrickte Pullover oder Holzfällerhemden. Bei Sahra Wagenknecht sitzen die frisch gebügelte, weiße Rüschenbluse und die rote Samtjacke perfekt, ihr Haar hat sie bieder nach hinten gesteckt. Fünf nach halb – so pünktlich hat in Kreuzberg seit zwanzig Jahren keine Veranstaltung begonnen – darf die 25jährige KPF-Frau beginnen.

Sie beginnt mit den Strategien der politischen Gegner. Die haben sich – wie gemein! – zum Ziel gesetzt, die PDS auf den „Boden der Tatsachen“, das heißt zur Akzeptanz der kapitalitischen Grundordnung und ihrer Machtverhältnisse, zu zwingen. Das „antikapitalistische Profil der PDS ist durch den letzten Parteitag blasser geworden“, und einige führende Genossen wollen der PDS einen „sozialdemokratischen Kurs“ aufnötigen. Der Saal nickt, schließlich hat man als K-Grüppler seit über zwanzig Jahren dem System getrotzt, hat als Linker die Alternative Liste wegen ihres Anpassungskurses verlassen oder sich als Autonomer eh dem Chaos verschrieben. Aber so kann Sahra Wagenknecht die West-Genossen beruhigen: „Bad Godesberg ist in der PDS nicht mehrheitsfähig.“

In der Fragestunde hat es Sahra Wagenknecht nicht so einfach. Der Wissensdurst ist groß. Ob Prag 68 für sie wirklich eine Konterrevolution gewesen sei, möchte jemand wissen. Ein anderer, wie es komme, daß ein Linker wie Havemann in der DDR härter verfolgt wurde als die meisten Bürgerrechtler. Aber auch Lebenshilfe wird von der Kommunistin verlangt: Wie könnte die Revolution aussehen? Und schließlich steigt ein Exmitglied der Marxistischen Gruppe sogar in die Theoriediskussion ein: „Wo verläuft für dich die Grenze zwischen Markt und Kapital?“ Sahra Wagenknecht geht auf die Fragen mit der Souveränität einer erfahrenen Politikerin ein. Wäre Walter Ulbrichts „Neues ökonomisches System der Planung und Leitung“ (NöSPL) auch in den siebziger Jahren konsequent weiterverfolgt worden, der Sozialismus wäre nicht so zugrunde gegangen. Doch als die Philosophiestudentin schließlich von der „Revolte“, die „weltfremd“ gewesen sei, spricht und 68 damit meint, zuckt der Saal zusammen. Aber vergeblich warten alle jetzt auf das Wort „kleinbürgerlich“, das den SED-Sprachduktus vervollständigt hätte. Von „sozialistischen Maßnahmen“ spricht sie im besten Bürokraten-Ostdeutsch, wo sich doch bei den West-Linken die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß alles Gute von unten kommt.

„Ich möchte ja nicht in Abrede stellen, aber man muß die Bedingungen im Kalten Krieg berücksichtigen.“ So lotst Sahra Wagenknecht kritische Anmerkungen zur DDR immer auf sicheres Terrain. Gesellschaftskritik will die Mehrzahl der Besucher hier hören, nicht selbstkritisches Gejammere über die Fehler des real existierenden Sozialismus. „Danke, Sahra, daß du hier so einen klaren antikapitalistischen Standpunkt vertrittst!“

Die Lage ist ernst, da werden sogar schwerwiegende Tabubrüche geduldet. Von sich als „Kommunist“ spricht Sahra Wagenknecht den ganzen Abend, dabei wird in der Kreuzberger Szene sonst jeder, der die Rede mit der Rednerliste verwechselt, schon als Frauenfeind entlarvt.