Paßabgabe schon vor der Ausreise

Trotz zahlreicher Minderheiten und Immigranten denkt Weißrußland nicht an die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft / Weißrussische Pässe sind Mangelware  ■ Aus Minsk Andriej Vaschkjewitsch

In Weißrußland gibt es nicht einmal den Begriff der doppelten Staatsbürgerschaft. Wahrscheinlich wird er auch nicht so schnell auftauchen. Minsk hat andere Probleme, zum Beispiel wie man aus den Bürgern der einstigen Sowjetrepublik Bürger des unabhängigen weißrussischen Staates macht und wie man die mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen entstehenden Probleme regelt. An der Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft ist nicht einmal Moskau interessiert, obwohl sich Rußland immer häufiger der russischen Minderheiten im sogenannten „näheren Ausland“ annimmt. Beim jüngsten Treffen von Boris Jelzin mit Präsident Aleksander Lukaschenko in Minsk kam das Thema nicht einmal zur Sprache.

Im Gegensatz zu den baltischen Staaten, die sehr schnell mit der Vergabe eigener Pässe begonnen haben, beginnt dieser Prozeß in Weißrußland erst jetzt. Obwohl die neuen Pässe schon gedruckt sind, wird der Termin für ihre Ausgabe immer wieder verschoben. So war es schon ein bedeutendes Ereignis, als Ende letzten Jahres vor laufenden Kameras des staatlichen Fernsehens der Außenminister den Absolventen einer Mittelschule in Minsk feierlich die neuen Pässe überreichte. Am schnellsten bekommen diese Rekruten, die aus dem Wehrdienst entlassen werden und Personen, die heiraten oder sich scheiden lassen und deshalb sowieso neue Dokumente brauchen. Bisher wurden so aber erst etwa 10.000 neue Pässe ausgegeben – mit denen man aber manchmal auch mehr Ärger als Nutzen hat, wie eine Künstlergruppe im vergangenen Jahr feststellen mußte. Aus Prestigegründen hatte man sie vorzeitig mit weißrussischen Pässen ausgestattet, aber die entsprechenden Muster noch nicht ins Ausland verschickt. Also wurden die Künstler an der slowakisch-ungarischen Grenze aufgehalten, weil die dortigen Grenzbehörden ihre neuen Pässe schlicht für nicht existent erklärten. Die meisten Weißrussen bedienen sich noch des alten Sowjetpasses, der nur auf der zweiten Umschlagseite einen Eintrag über die weißrussische Staatsangehörigkeit seines Inhabers aufweist.

Anders als im Baltikum hat Weißrußland die Nulloption bei der Staatsbürgerschaft angewandt: Jeder ehemalige Sowjetbürger kann die weißrussische Staatsbürgerschaft bekommen, vorausgesetzt, er wohnt in Weißrußland und ist dort seit der Unabhängigkeit gemeldet. Nicht alle „Weißrussen“ haben sie allerdings angenommen. Viele der im Land stationierten ehemaligen Rotarmisten rechnen sich ohne sie bessere Karrieremöglichkeiten in der russischen Armee aus. Viele wurden bisher noch nicht einmal auf die weißrussische Verfassung vereidigt. Hinzu kommen viele vor allem ältere Leute, die es als nicht notwendig empfunden haben, ihren Paß umstempeln zu lassen und so immer noch Bürger der seit drei Jahren nicht mehr existenten Sowjetunion sind. Andere Menschen würden gerne Weißrussen werden, können aber nicht. Im ganzen Land sind inzwischen 25.000 Flüchtlinge aus der ehemaligen GUS und 2.000 aus Afrika, Südamerika und dem nahen Osten registriert, die die Behörden ihrem Schicksal überlassen. Um die weißrussische Staatsbürgerschaft kann man sich erst nach fünf Jahren bewerben, es sei denn, man heiratet vorher einen einheimischen Ehepartner, beherrscht die Landessprache und hat eine feste Anstellung. Das können nur die wenigsten Flüchtlinge vorweisen – außerdem gibt es gar keine Ausführungsbestimmungen zum Ausländergesetz. Ein Gesetz über die Einwanderung steckt seit Monaten in den parlamentarischen Beratungen.

Kein weißrussisches Gesetz läßt eine doppelte Staatsbürgerschaft zu, nicht einmal dann, wenn ein Weißrusse emigriert und eine neue Staatsbürgerschaft annimmt – wie das besonders bei Juden der Fall ist, die nach Israel auswandern. Ihnen wird der weißrussische Paß noch vor der Abreise abgenommen. Die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft haben bisher nur großrussische nationalistische Organisationen und orthodoxe Kommunisten gefordert, die von einer Wiedererrichtung der UdSSR träumen. Im vergangenen Jahr wurde bekannt, daß der Chef der prokommunistischen und prorussischen Belarus-Fraktion im Parlament, Gennadij Kazlov, die russische Staatsbürgerschaft beantragt hat. Bekommen hat er sie von der russischen Botschaft angeblich aber nicht.