Lenins reiner Schrottwert

Sie wurden abgerissen, versteigert, verhüllt, verbuddelt oder kurzerhand einem unmittelbar praktischen Nutzen zugeführt: Ein kleiner Streifzug durch die derzeitige Schicksalsgeschichte russischer Monumentaldenkmäler  ■ Von Barbara Kerneck

„Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt.“ Dieser Spruch läßt sich nicht nur auf in mancherlei Hinsicht unterschiedliche Menschen anwenden, sondern auch auf verschiedene historische Epochen. Was in Rußland für die Nach-Putsch-Tage im August 1991 ganz selbstverständlich war, gilt heute als verbrecherisch. Das Abreißen sozialistischer Führerdenkmäler beispielsweise wirkt angesichts eines sich in Regierungskreisen ausbreitenden national-imperialen Bewußtseins und im Zeichen einer gewissen Vor-Putsch-Stimmung in der Bevölkerung nicht mehr so recht...

Bekanntlich hatte der Volkszorn in Moskau als ersten den Genossen Dserschinski vom Podest gefegt, den Chef der berüchtigten Geheimpolizei Tscheka. Als sich nun im letzten November Innenminister Jerin wegen schwacher Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung vor der Duma verantworten mußte, stellte ein Deputierter von Schirinowskis sogenannter „Liberaldemokratischen Partei“ die Diagnose: „Der Verfall unserer Miliz hat damit begonnen, daß das Dserschinski-Denkmal vom Ljubjanka-Platz verschwand.“ Offenbar um solche Folgen künftig abzuwenden, verabschiedete die Moskauer Stadtduma noch Ende Dezember ein Gesetz, demzufolge mit einer Strafe von 200 Minimallöhnen zu rechnen hat, wer ein Denkmal „willkürlich abreißt, versetzt oder dessen Äußeres verändert“.

Derselbe Zeitgeist verbreitet sich im benachbarten Nunmehr- Ausland. Eine Freundin aus Rowno in der Westukraine begegnete dort bereits im letzten Sommer einem Handwerker, der den Trend voll erfaßt hatte. Der Magistrat der verarmten Stadt hatte nämlich beschlossen, seinen gewaltigen Bronze-Lenin einzuschmelzen. Dem wackeren Mann wurde also befohlen, dem Koloß mit der Metallsäge zu Leibe zu rücken. Doch der derart Beauftragte weigerte sich: „Sie sind hier bloß die Chefs, aber ich muß Hand anlegen. Wenn die Staatsmacht wieder wechselt und man fragt: wer hat ihn zersägt? Dann bin doch ich's gewesen.“

Das Aufkommen restaurativer Tendenzen hat allerdings nichts am steten Wandel geändert, dem das Schicksal exsowjetischer Führer-Denkmäler in den letzten drei Jahren unterlag – vor allem nicht am Handel. Ein Blick in die russische Tagespresse belegt seit Ende 1991 ihr unverändert bewegtes Schicksal. Viele wurden von den Magistraten ihrer Heimatstädte an den erstbesten Liebhaber verhökert, um Nützliches für den Alltag erwerben zu können, zum Beispiel Anlagen zur Straßen-Asphaltierung.

Daß nicht nur der finanzielle Gewinn aus einem Denkmal, sondern auch dessen Bestandteile selbst unmittelbaren praktischen Nutzen bringen können, bewiesen die StudentInnen des landwirtschaftlichen Technikums im Dorf Borowoje (Kasachstan). Aus dem dortigen Gruppen-Denkmal für die NeulandgewinnerInnen verschwanden eines Tages zwei alte Traktoren – und fanden sich in der Hochschule für Landwirtschaft wieder. Die jungen Leute waren nicht bereit, die beiden Landmaschinen wieder herauszurücken. Als Begründung gaben sie an, sie seien gerade dabei, sie „in Einsatzbereitschaft“ zu versetzen. „Die werden bei uns noch pflügen“, versprach der Direktor der Lehrstätte. Der gängigste Weg, Idole zu verscherbeln, besteht allerdings darin, sie ganz offiziell zur Auktion anzubieten. So geschah es in einem Kreisstädtchen bei Kursk, wo der Lehrer Nikolaj Kolesow den örtlichen Granit-Lenin aus eigener Tasche ersteigerte. Er war zu dem Schluß gekommen, daß die anderthalb Meter hohe Statue seinen selbst angelegten Schul-Märchenpark ungemein putzen würde.

Schlimmer trifft es die Standbilder dort, wo sie nur noch Aggressionen wecken oder aufgrund ihres reinen Schrottwertes begehrliche Blicke auf sich ziehen. Über Nacht verschwindet da so mancher Marx oder Engels. Einem Marx neben dem Kreml von Tula widerfuhr, daß man ihn – nein, nicht etwa, wie er es für alle ideologischen Hirngespinste gefordert hatte – vom Kopf auf die Füße stellte. Vielmehr schraubte man ihm den eisernen Schädel gleich ganz ab. Wer hier allerdings seines Kopfes beraubt wurde, ist nicht ganz klar. Wie sich herausstellte, hatte nämlich das Haupt der Weltrevolution auf dem Körper irgendeines Zaren gesessen, der schon länger dort posierte – die proletarische Revolution duldete zu ihrer Zeit eben keine leeren Postamente.

Nicht selten dienen Führer- Denkmäler heutzutage als willkommenes Tableau für Graffiti und Farb-Anschläge. Um nicht jeden Tag sehen zu müssen, was man wieder auf ihren Lenin geschmiert hatte, kamen die Stadtoberen von Tscherkassy in der Ukraine auf eine Idee: sie verpackten das Standbild in Segeltuch und ließen es so stehen – bis zum Anbruch neuer alter Zeiten. Damit bekräftigten sie das Motto des polnischen Satirikers Stanislaw Lec: Die Nachhut der Avantgarde von heute ist die Avantgarde der Nachhut von morgen. Christo hätte seine Freude daran. Bestimmt wäre er neugierig darauf, was man bis heute so alles auf das Tuch gekritzelt hat.

Um einem merk- und unwürdigen Ende zuvorzukommen, entschlossen sich die Deputierten eines Dorfsowjets bei Wolgograd, „ihrem“ Lenin eine Ehre zuteil werden zu lassen, die den sterblichen Überresten des Menschen Wladimir Iljitsch noch nicht widerfahren ist: sie haben das Denkmal ganz offiziell der Erde übergeben. Ebenfalls fürsorglich zeigte sich 1992 ein Bürger von Ulan-Ude, der Hauptstadt Burjatiens, einer zweieinhalb Meter hohen Lenin-Büste gegenüber. Er wollte damals inkognito bleiben, weil er bezweifelte, ob es ihm gelingen würde, dem spärlich behaarten Führer des Weltproletariats eine schöne warme Rentierfellmütze zu nähen. Das Resultat ist nicht bekannt. Ganz nebenbei handelte es sich dabei um einen der in der Russischen Föderation äußerst beliebten Versuche, in das Guinness-Buch der Rekorde einzugehen.

Fünfzehn, ihren gewaltigen Ausmaßen nach rekordverdächtige, Leninstatuen, mit denen man heute einfach nicht weiß, wohin, gehören auch zum Inventar des Ende vorletzten Jahres geschlossenen Moskauer Lenin-Museums. Lieber unter Verschluß hält man auch andere Kuriositäten aus den Beständen, wie zum Beispiel ein von den Arbeitern einer Geflügelfarm in Saraisk aus Schwanzfedern geklebtes Lenin-Porträt.

Schade eigentlich, denn Gefiedertes am Bau und auf Plätzen ist in Rußland derzeit auf dem Vormarsch. Im Zuge der Wiederbelebung imperialer Heraldik machen sich allenthalben gekrönte Doppeladler breit, vorzugsweise als Relief. Das scharfschnäbelige Symbol des alten und des neuen Rußland kleisterte man im Oktober auch auf den Giebel des „Smolny-Institutes“ in Sankt Petersburg, wo während der Revolution Lenins Stab residierte. Das bronzene Abbild des Proletarier- Führers vor dem Gebäude hält sich unerschütterlich aufrecht und nimmt es ohne Wimpernzucken hin. Aber vielleicht dreht sich dafür ja sein Zwilling bei Wolgograd im endlich ergatterten Grabe herum?

Und erst im November hat eine ganz neue Vogelart unter den Denkmälern der daran so reichen Newa-Stadt Einzug gehalten. Nicht weit vom Smolny, an der Außenseite einer der Brücken über das Flüßchen Fontanka, nistet heute das minimalistischste Monument Rußlands. Sein Schöpfer, der Bildhauer und Puppenspieler Reso Gabriadse, trug den bronzenen „Tschischik-Pyschik“ (auf deutsch etwa soviel wie Puschel- Zeisig) in der Manteltasche zur feucht-fröhlichen Einweihung. Wo ein Ex-Weltreich seine ehernen und bleiernen Träume nicht mehr zu bewältigen vermag, da ist auch der „Liebe Augustin“ nicht fern mit seiner Erkenntnis: Small is beautiful.