Hotelgast mit Werk

Entschlossen subjektives Grün: „Munch und Deutschland“ im Alten Museum  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Was die Eintrittskarten betrifft kann kein Popkonzert mithalten: Stabilisiert durch kalkulierte Typographie zeigen sie farbige Motive. Für die Schüler das Bild vierer Knaben vor einer weißen Doppeltür; für die Ermäßigungsberechtigten das Exterieur „Roter wilder Wein“ und für die gänzlich Erwachsenen das Porträt Harry Graf Kesslers in cremigem Ambiente. Mit 2, 4 und 10 Mark ist eine überzeugende Staffelung der Eintrittspreise gefunden worden; am ersten Sonntag der Ausstellung im Alten Museum konnte man im zugigen Treppenhaus schon mal zehn Minuten an der Kasse Schlange stehen. Sich beim Ansehen der Bilder nicht wehzutun, war schwerer als beim Geräteturnen. Meine Eintrittskarte trägt die Nummer 2781.

Doch „Munch und Deutschland“ ist weder Nostalgieschau noch Retrospektive, sondern der Versuch, die produktive Zeit des norwegischen Malers und Graphikers Edvard Munch in Deutschland sichtbar und ein Stück weit transparent zu machen. Die Ausstellung ist von der Hamburger Kunsthalle erarbeitet worden und macht nach München und Hamburg in Berlin Station. Natürlich versucht die Nationalgalerie dem Ganzen noch eine spezifisch berlinische Wendung zu geben.

Man sieht der Kunst kaum an, daß sie aus einer Zeit stammt, als der Umgang mit Malgrund, Auftrag und Duktus noch kulturkampffähige Eigenschaften hatte. Daß vom Horizont her ein Paradigmenwechsel mit dem Zaunpfahl winkte, hatte wohl der Verein Berliner Künstler geahnt, als er einem weitgehend unbekannten norwegischen Bohemien mit etwas Paris-Erfahrung 1892 eine Einzelausstellung widmete, die im Architektenhaus Berlin in der Wilhelmstraße 92 am 5. November eröffnet und genau eine Woche später – vorzeitig – geschlossen wurde.

Elf Tage vor der Eröffnung hatte Munch seine Tante Karen gebeten, ihm den Gehrock nachzuschicken, „das ist hier unten ein sehr wichtiges Kleidungsstück“. Wilhelminisches Deutschland: Anton von Werner malte gerade an seinem „Etappenquartier“, das die deutschen Besatzer in Versaille in einer Kaminfeuerszene mit Klavier darstellt. Der pedantische Militärmaler ist auch Direktor der Akademie der Künste und Vorsitzender jenes Vereins, der Munch durch Einladung und Rauswurf innerhalb weniger Wochen zu seiner skandalösen Berühmtheit verhalf.

Ein flüchtiger Blick auf „Munch und Deutschland“ könnte vermuten lassen, hier werde die düstere Kunst der Vor-Munch-Zeit vermessen mit seinem Werk, um am Ende den belebenden Einfluß durch deutsche Expressionisten zu belegen. Tatsächlich aber sind die Maler, die im ersten Viertel des Rundgangs gezeigt werden – Arnold Böcklin, Hans Thoma, Franz Stuck und Max Klinger als Graphiker –, jene Künstler, von denen Munch sich angespornt fühlte. Andererseits haben die Maler der „Brücke“ den Norweger nicht integrieren können.

Munch betreibt einfache Seelenkunde unter schwierigen Umständen. Seine Referenzen sind stereotyp: Frauen haben lange Haare, Männer kurze. Die „Motive aus dem modernen Seelenleben“, wie Munch einen Zyklus im Entstehen nannte, sucht der Maler in einer untechnischen Welt. Während anfangs die Frau noch „alles hat“ und „alles ist“, relativiert sich die Identifikation mit dem eifersüchtigen, leidenden Mann. Weil das Bild „Pubertät“ (um 1892) in der Ausstellung fehlt, sieht es aus, als habe Munch eine spezifisch weibliche Verzweiflung erst spät in den Blick bekommen: Der „Weinende Akt“ von 1907 ist eine hochkarätige Studie psychosozial motivierter Depression, die Nacktheit der Figur kein Versprechen mehr, nur noch Gefängnis.

Munch bleibt immer vorsichtig, wenn es darum geht, die Umstände seiner Szenen festzulegen. Während die Szenerie am Meer – zum Beispiel in seinem stärksten Frauenbild der neunziger Jahre, „Die Stimme“ – durch die Angleichung der Tonwerte von Haut und Sand, Haar und Borken als Interieur, als Seelenlandschaft gebaut ist, entdeckt Munch fünfzehn Jahre später mit der Lebensreform das Draußen als Draußen. Die „Männer am Strand“, auch von 1907, sind reinstes FKK, auch wenn das Wort noch nicht erfunden war. „Das Bild ist irgendwie schrecklich“, befand eine vielleicht neunjährige Besucherin über die grelle Szene drahtiger Herren mit rötlichen Gesichtern und Schenkeln. Worauf ihre erwachsene Begleiterin antwortete: „Ja, so sehen Männer nun mal aus.“ Das Mädchen: „Aber trotzdem.“

Es ist nicht ganz leicht, sich zurechtzufinden zwischen Munchs jugendstilhafter Feenwelt, seinen bösen Märchen, guten Märchen und der überraschenden, hintergründigen (und vorweggenommenen „neuen“) Sachlichkeit der Porträts. Im „Kuß“ verlieren die Küssenden ihr Gesicht, in „Der Schrei“ wird die Figur von Persönlichem entleert zum Jugendstilcomic, im Reinhardt-Fries sind die Frauen papierne Fabelwesen. Im Linde-Fries, den der Lübecker Sammler fürs Kinderzimmer bestellt hatte und für den Gegenwert eines einzelnen anderen Bildes zurückgab, läßt Munch durch das Gauguin-haft gefärbte Setting einen van-Goghschen Wind blasen.

Wenn man sich irgendeine Farbe herausnimmt, erkennt man Munchs wild entschlossene Subjektivität. Eine grüne Hauswand hält eine Schneeszene im thüringischen Elgersburg mit einer Gruppe dunkel gekleideter Jungen und farbiger Mädchen zusammen. Die froschgrüne Spur an einem Türgriff setzt einen Keil auf das frappierende Porträt der vier Linde-Söhne. Und keines der Porträts verwendet reines Grün im Gesicht, mit Ausnahme des wahrlich ernüchternden „Selbstbildnisses mit Weinflasche“. Die seltsame Suggestion emblematisch bis willkürlich gesetzter Farben wäre leichter zu entschlüsseln, wenn nicht die drei Haupträume der Ausstellung in Munch-Farben gestrichen wären, ein vielleicht doch etwas gedankenloser Akt musealer Repräsentation in Räumen, die mit ihrem Nordlicht die Ateliersituation ganz gut hätten wiedergeben können.

Die begleitenden Texte, wie Bilder auf die Wände gebracht, sind im Prinzip wünschenswert und im Detail wurschtig. So heißt es über die klaustrophobische Serie „Das grüne Zimmer“: „Hauptdarstellerin ist das Weib, ausweglos eingesperrt zwischen Begierde und Weinen, Eifersucht und Mord.“ Das „Weib“ ist nicht als Zitat ausgewiesen; in den groben Gegensatzpaaren sind die Bildtitel sperrig, aber ohne Erkenntnisgewinn untergebracht. Die Textredaktion erweist sich immer wieder als Schwachstelle von Museen.

„Munch und Deutschland“ klärt nicht in toto die Beziehung des Malers zu Deutschland. Er hatte 1932 von Hindenburg die Goethe-Medaille für Wissenschaft und Kunst bekommen; 1937 wurden 82 seiner Werke in deutschen Museen als „entartet“ beschlagnahmt. Munch starb im Januar 1944 an Herzschlag, in einem nationalsozialistischen Norwegen, inmitten eines deutschen Kriegs.

Aus norwegischer Sicht (Arne Eggum) war die Berliner Zeit Munchs 1896 eigentlich vorbei; im Folgejahr kaufte er das Haus am Aasgaardstrand. Sein wirklicher deutscher Erfolg war die Sonderbundausstellung 1912 in Köln, in der er als einziger lebender Künstler einen Raum, den größten, für sich bekam. In Deutschland hat Munch in Dutzenden von Wohnungen, Ateliers und vor allem Hotels gewohnt. Er reiste entlang der Route seiner Ausstellungen und besuchte seine Förderer in Hamburg, Leipzig, Weimar und Lübeck – und porträtierte sie.

Edvard Munch war ein Reisekünstler, der sich ein Sommerhaus mietet, im Hotel malt und pünktlich zum Nervenzusammenbruch bei seinem Arzt in Kopenhagen eintrifft. Dem Hamburger Sammler Gustav Schiefler, der sich über den schlechten Zustand eines ihm geschickten Bildes beschwerte, schrieb er: „Übrigens sind alle meine Gemälde so en bischen gelochert“. Die eigentlichen Naturversuche setzten erst ein, als er sein Atelier in Ekely bei Oslo gefunden hatte. Darüber informiert eine begleitende Ausstellung in der Nationalgalerie hinter dem Alten Museum. Auf den raffinierten Eintrittskarten ist dafür ein extra Abriß vorgesehen.

Munch und Deutschland. Berlin, Altes Museum, bis 23. 4., Katalog in der Ausstellung 39 DM. – Munchs „Roßkur“, Experimente mit Technik und Material, Alte Nationalgalerie, Katalog 7 DM.