Blind oder verlogen -betr.: "Grabsteine unterm Hakenkreuz", taz vom 1.3.95

Betr.: „Grabsteine unterm Hakenkreuz“, taz vom 1.3.95

Herzlichen Dank und Gratulation zu dem ausführlichen und engagierten Artikel und dem ebensolchen Kommentar! Die Einzelheiten aus dem Gespräch mit Kreye haben mich nochmal sehr erschrocken. Nach meiner zufälligen Entdeckung der Hakenkreuze auf dem Gefallenendenkmal des Oldenburg-Osternburger Friedhofs und dem ersten Schrecken habe ich umgehend zahlreiche AmtsträgerInnen der evangelischen Kirche eingeschaltet.

Dabei bin ich fast durchweg auf enttäuschende Reaktionen gestoßen; niemand wollte einsehen, da diese grausigen Symbole so schnell wie irgend möglich entfernt werden müssen, daß das öffentlich geschehen muß, und daß es einer Bitte um Entschuldigung bei den Opfern des Nationalsozialismus bedarf. Mehr noch: die Hakenkreuze waren einigen längst bekannt! Diese Unsensibilität gegenüber dem Thema hat mich zutiefst erschreckt.

Die Gräber und Grabsteine wurden also erst nach dem Krieg aus über den Friedhof verstreuten Privatgräbern in das schon bestehende Gefallenendenkmal überführt; heute besteht für die Anlage Denkmalschutz. Welches Jahr schreiben wir eigentlich?

Über eine Woche lang hat die ev. Kirche dann nichts beschlossen und nichts unternommen, und jetzt, mehr als eine Woche später, weiter Verharmlosung. Noch aus der Nazizeit stammende Hakenkreuze ohne beigefügte Erklärung nachträglich als Mahnmal ausgeben zu wollen, ist entweder blind (was ich hoffen muß) oder zutiefst verlogen. Wer versteht es als Mahnmal, wenn irgendwo ein Hakenkreuz an eine Wand geschmiert ist? Die Osternburger Gemeinde betreibt hier Verschlimmbesserung.

Es kann doch nicht angehen, daß gerade die ev. Kirche sich gegenüber der Forderung nach sofortiger Entfernung der Hakenkreuze auf den haarsträubenden juristischen Standpunkt zurückzieht, daß Denkmalschutz besteht. Sie ist voll verantwortlich. Peinlich für die ev. Kirche, und für mich als kritisch-engagierten Christen sehr schmerzhaft. Ansonsten hat die ev. Kirche bisher nichts unternommen, man versucht anscheinend, den Fall auszusitzen. Wie soll das, bitte schön, gehen, wenn am nächsten Sonntag die von der Stadt Oldenburg gestiftete Synagoge an die jüdische Gemeinde übergeben wird und dazu Richard von Weizsäcker die Festrede hält?

Hakenkreuze können und dürfen in Deutschland nicht in der Öffentlichkeit geduldet werden, schon gar nicht offiziell, und schon dreimal nicht durch die ev. Kirche. Sie stellen eine unerträgliche Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus dar und müssen so schnell wie nur irgend möglich entfernt werden. Aber die ev. Kirche läßt sich Zeit und diskutiert erst einmal. Was würde Dietrich Bonhoeffer dazu sagen, wenn er sehen könnte, daß die heutige ev. Kirche zögert, das Schandmal zu entfernen, unter dem er ermordet wurde? Bonhoeffer: „Wir wollen reden zu dieser Welt, kein halbes, sondern ein ganzes Wort, ein mutiges Wort, ein christliches Wort.“

Und was wohl, nur nebenbei, die Familien der unter den Hakenkreuzen Begrabenen dazu sagen?

Jesus selbst war immer deutlich, konfliktbereit und kompromißlos auf der Seite der Schwachen, der Mühseligen und Beladenen, der Opfer, und er hat damit so viel Haß heraufbeschworen, daß er am Ende ermordet wurde. Wann macht sich die Kirche endlich den Anspruch der Opfer nach Gerechtigkeit zu eigen? Sie tut es nur stellenweise und so, daß sich niemand auf den Schlips getreten fühlt. Hier könnte die Kirche einmal ein Zeichen setzen, daß sie etwas von der Botschaft Jesu verstanden hat, indem sie diese Symbole des systematischen Mordens und der Vernichtung keinen Augenblick länger duldet. Ich möchte dazu auffordern,

1) jetzt nicht ohne Kommentar aus der Kirche auszutreten, sondern auf jeden Fall der ev. Kirche deutlich (aber höflich!) die Meinung zu sagen und

2) sich die Hakenkreuze auf dem Oldenburg-Osternburger Friedhof selbst anzuschauen.

Wolf Hertlein