Ich bin für einen grünen Innensenator

■ Interview mit Wolfgang Wieland, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, über ihre Wahlziele, ihr Programm, ihre Wähler / Auf dem Weg zur kleinen Volkspartei?

Auf der Landesdelegiertenkonferenz am Wochenende diskutieren die Bündnisgrünen ihr Wahlprogramm. Die Koalitionsfrage und die PDS werden dabei ausgeklammert. Ist das der vielzitierte neue Stil der Partei – Probleme aussitzen, Streit vermeiden?

Wolfgang Wieland: Nein. Aus diesem Vorgehen spricht unsere Erfahrung, daß wir unser Programm erst einmal selbst diskutieren und verabschieden müssen, bevor wir entscheiden, mit wem wir es dann durchsetzen. Das scheitert allerdings oft an den vorwitzigen Journalisten, die sich, ich sage das höflich, mehr für die Frage „Wer mit wem?“ und weniger für politische Inhalte interessieren.

Vor zehn Jahren wäre das bei den Grünen garantiert anders gelaufen.

Das weiß ich nicht. Ich stelle nur fest, daß unsere Partei nach wie vor nicht zwischen Wahlprogramm und Parteiprogramm unterscheidet und wir vor jeder Wahl wieder ausführlich unsere Programmatik diskutieren. Das war vor zehn Jahren gar nicht so anders.

Im Vergleich zu den 70er und 80er Jahren gibt es heute aber Anzeichen einer Diskussionsarmut. Der Politologe und Grünen-Experte Joachim Rasche beschreibt das als „diskursive Paralyse“ der Partei. Was sind die Ursachen?

Ich glaube, das ist phasenbedingt. Wir hatten Jahre, in denen der nach außen getragene Streit im Vordergrund gestanden hat. Es gab heftige Auseinandersetzungen, Stichwort Realos-Fundis, Stichwort Vereinigung mit dem Bündnis 90. Das haben wir alles sehr kontrovers und emotionsbeladen diskutiert. Wir haben wichtige Entscheidungen getroffen, und danach ist es in der Tat etwas ruhiger geworden, was aber nicht heißt, daß wir nicht mehr diskutieren; siehe nur Bosnien und internationale Bundeswehreinsätze. Es fehlt heute lediglich die Dramatik – nach einer Diskussion folgt nicht unmittelbar eine Richtungsentscheidung oder eine Abspaltung von Flügeln und Personen.

Sind die Grünen still und leise eine andere Partei geworden? Über Grundsatzfragen, die die Partei vor zehn, fünfzehn Jahren bewegt haben, streitet doch heute nur noch die PDS.

Natürlich haben wir uns verändert, unsere Wähler haben es auch. Aber wir sind keine andere Partei geworden, wir haben keinen unserer politischen Grundsätze aufgegeben. Und nur weil uns heute Leute wählen, die vor zehn Jahren noch in der FDP waren, sind wir noch lange keine grüne FDP.

Wir diskutieren nur nicht immer wieder aufs neue Fragen, die wir einmal entschieden haben – beispielsweise die, daß wir diese Gesellschaft reformieren wollen, indem wir sie aktiv mitgestalten, auch indem wir regieren. In der PDS hat der Streit darüber gerade begonnen. Sollen wir ihn deswegen etwa noch mal wiederholen?

Aber es hat sich in den letzten Jahren ein pragmatischer Politikstil innerhalb der Partei entwickelt, der über solche Grundsatzfragen hinaus den Streit nicht offensiv sucht, sondern ihn aus taktischen Gründen vermeidet. Beispiel: das Verhältnis von Bündnis 90/Die Grünen zur PDS.

Diese Entwicklung hat es in den letzten zwei Jahren gegeben. Viele hatten von den aufreibenden Streitereien einfach die Schnauze voll. Aber ich habe schon vor zwei Jahren gesagt: Wir müssen aufpassen, daß wir nicht vom Kindergarten ohne Umweg ins Seniorenheim wandern. Mir ist der große Frieden manchmal nicht geheuer.

Was unser Verhältnis zur PDS betrifft, wird die Frage in Berlin von unseren Mitgliedern beantwortet. Anfang April wird es dazu eine Landesdelegiertenkonferenz geben. Gerade bei diesem Problem habe ich überhaupt keine Angst, daß da um des lieben Friedens willen irgendein Formelkompromiß gefunden wird. Der ist auch gar nicht möglich.

Im Moment sieht alles so aus, als sei Ihre Partei weder zu einer Zusammenarbeit mit der PDS noch zu einer Tolerierung durch sie bereit.

Wir werden jetzt eine Aussage für Oktober 1995 treffen. Ob die sich in fernerer Zukunft einmal ändert, hängt allein davon ab, ob sich die PDS verändert. Bislang ist der Wandlungsprozeß dieser Partei noch lange nicht so weit gegangen, daß wir mit ihr Regierungsverantwortung tragen könnten. Das impliziert, daß die dafür notwendigen Veränderungen innerhalb der PDS möglich sind. Ich gebe da keine Prognosen ab. Es kann so sein, die PDS kann die zweite sozialdemokratische Partei werden. Sie kann sich aber auch zur DDR- Nostalgie-Partei entwickeln.

Vielleicht besetzt die PDS aber auch die Lücke, die SPD und Bündnisgrüne links von sich hinterlassen?

Es gibt einige in der Bundespartei, die das so sehen. Das ist eine Position, die die PDS-Frage relativ gleichgültig sieht und einer Westausdehnung der PDS sogar Sympathien entgegenbringt. So nach dem Motto: Wenn die PDS links sitzt, sitzen wir klar in der Mitte, und da wollen wir auch hin.

Meine Position ist das nicht. Ich möchte, daß die Westausdehnung der PDS scheitert. Ich will das linke Terrain besetzt halten. Das war bis jetzt auch erfolgreich. Ohne uns wäre die PDS im Westen schon in einigen Parlamenten.

Viele grünen Wähler kommen heute aus der Mittelschicht, sind beruflich etabliert, verdienen gut bis sehr gut, sind nicht ideologisch festgelegt. Sie verkörpern eher eine liberal-demokratische Perspektive der Partei. Ist diese Veränderung so gravierend, daß andere Positionen, beispielsweise soziale, viel zu kurz kommen, weil sie nicht mehr so wie früher für das grüne Milieu stehen?

Nur weil aus Hausbesetzern Hausbesitzer geworden sind, können wir doch denen nicht sagen: Bitte wählt uns nicht mehr. Wir wollen für den Hausbesitzer, für Leute aus dem Mittelstand mit ökologischem Bewußtsein ebenso attraktiv sein wie für den Hausbesetzer. Wir haben erst vor zwei Wochen Leute im Prenzlauer Berg aufgefordert, leerstehende Wohnungen dort zu besetzen. Das ist eine Protestform, die wir unterstützen. Es ist also absolut verkürzt, zu sagen, wir seien eine Mittelstandspartei, die vornehmlich von Leuten aus den gutsituierten Wohnvierteln gewählt wird. Das trifft noch nicht einmal auf Frankfurt/Main zu. Die Basis unserer Partei wird sowohl von der Lehrerin repräsentiert als auch von der alleinstehenden Mutter, die Schwierigkeiten hat, finanziell über die Runden zu kommen.

Verkörpert die PDS als eine eher traditionelle linke Partei nicht viel mehr die sozialen Fragen als Bündnis 90/Die Grünen?

Das sehe ich nicht so. Daß die PDS ihre Hochburg ausgerechnet in den Ostbezirken Berlins hat, liegt nicht daran, daß die Partei eine vermeintlich gute soziale Interessenvertreterin ist. Die, die sie hier gewählt haben, die Privilegierten der DDR, sind keine Sozialfälle, denen geht es vergleichsweise ganz gut.

Die PDS betreibt hemmungslos soziale Demagogie. Sie verspricht jedem alles. Sie will einen Sozialplan für alle Berliner, sie will nicht weniger Studienplätze, sondern mehr, sie will schlichtweg alles erhalten, was es jemals gegeben hat. Um die Finanzierung dieser Wohltaten hat sich die PDS niemals auch nur einen Gedanken gemacht.

In unseren Anfangsjahren waren wir auch so. Da haben wir zum Beispiel auf Wahlplakaten mit optischen Hundertmarkscheinen eine Mindestrente gefordert. Deswegen sind wir noch lange nicht von Rentnern gewählt worden. Und die PDS wird wegen ihrer sozialen Forderungen nicht von den Arbeitslosen in Sachsen und Thüringen gewählt. Sie wird von ihrer alten Speckschicht und von jungen Protestwählern getragen.

Begünstigt wird das durch eine eklatante Schwäche der Bündnisgrünen im Osten.

Uns mangelt es dort an der Fähigkeit, sozialen Protest zu artikulieren und darzustellen. Das liegt doch aber nicht daran, daß wir angeblich eine Mittelstands-Yuppie- Partei sind. Wir werden vornehmlich aus Milieus gespeist werden, die es im Osten gar nicht gibt.

Sie sagen, die Bündnisgrünen sind für den Hausbesitzer und den Hausbesetzer gleichermaßen attraktiv. Ist das nicht ein frommer Wunsch? Ist dieser Spagat nicht zu groß für eine Partei, die von sich mittlerweile behauptet, ein unverkrampftes Verhältnis zur Macht zu haben, und in Hessen den Innenminister stellen möchte? Vielleicht muß der ja irgendwann mal Häuser räumen lassen.

Ich persönlich, der ich ja ein Innenpolitiker bin, wünsche mir ausdrücklich, daß Rupert von Plottnitz in Hessen Innenminister wird – auch wenn es dann schwierig wird und es irgendwann mal auch zu Polizeieinsätzen gegen die alternative Szene kommt.

Die Haltung der hessischen Grünen dazu ist eindeutig, und die teile ich: Unabhängig davon, ob wir den Innenminister stellen oder nicht, die politische Verantwortung für etwaige Polizeieinsätze tragen wir sowieso. Wir kommen aber in eine viel bessere Situation, wenn wir die kritischen Prozesse gleich selber steuern. Ein grüner Innensenator hätte eben 1990 die Mainzer Straße nicht geräumt.

Das hört sich so an, als möchten Sie in Berlin einen grünen Innensenator?

Dafür bin ich.

Ist Ihre Partei darauf vorbereitet?

Überhaupt nicht. Die Frage, welche Grausamkeiten man als Regierungspartei begehen muß, ist in Berlin noch nicht einmal angedacht. Ein grüner Innenminister in Hessen wird unser Problem auch dem letzten deutlich machen: Wenn ein Verwaltungsgericht entscheidet, die NPD darf die und die Stadthalle für ihre Veranstaltung nutzen, dann muß die hessische Polizei diese Halle vor Gegendemonstranten schützen, auch wenn der grüne Innenminister empört darüber ist, daß eine solche Veranstaltung stattfindet. Das werden unsere Parteimitglieder zu akzeptieren haben.

Wie bereitet man denn eine Partei und ihre Wähler aufs Regieren vor?

Das ist eine theoretische Frage. Regieren kann man erst lernen, wenn man regiert. Da spielen sich sozialpsychologisch ganz interessante Prozesse ab. Nehmen Sie Frankfurt/Main: Der grüne Stadtkämmerer Tom Koenigs schneidet seiner Wählerklientel tief ins eigene Fleisch, spart und spart, dreht alternativen Projekten den Geldhahn ab, schließt ein kommunales Kino, und bei den Hessen- Wahlen kommen die Grünen in Frankfurt auf phantastische 17 Prozent.

In Berlin macht Ihre Partei nicht den Eindruck, als wolle sie unbedingt mitregieren. Die Kassen sind leer, das Land ist verschuldet, von Reformstimmung keine Spur, und jetzt jammern auch noch die Westberliner – hält das die Bündnisgrünen ab?

Eine Reformeuphorie in der Stadt gibt es tatsächlich nicht, ich beklage das immer wieder. Aber leere Kassen und Schulden führen nun mal zu Realismus, und die Berliner sind heute realistisch. Für mich ist deswegen nicht ausgemacht, daß wir mit der SPD, sollte es rechnerisch ohne die PDS für eine rot-grüne Mehrheit reichen, zu einer für uns akzeptablen Vereinbarung kommen. Dafür tragen die Sozialdemokraten die Große Koalition viel zu sehr aus Überzeugung mit. Um so erstaunlicher ist es für mich, daß einige KollegInnen aus meiner Partei geradezu darauf brennen, wieder zu regieren.

Also keine Euphorie für Rot- Grün wie 1989?

Nein. Damals sind die Grünen ja in einer Art kollektivem Rausch in die rot-grüne Regierung gegangen und haben in der Koalitionsvereinbarung deswegen vieles unverbindlich gelassen. Das wird es diesmal nicht geben. Wir brauchen einen klaren Kopf und klare Vereinbarungen.

Wo muß sich die SPD denn ändern, damit Rot-Grün eine realistische Chance hat?

Ich halte nichts davon, einzelne Punkte rauszunehmen, so nach dem Motto: Hält die SPD am Tiergartentunnel fest, gibt's keine Koalition. Dann können wir die Verhandlungen gleich am Telefon führen. Wir sollten unsere zehn dringendsten Maßnahmen und Veränderungswünsche auflisten, danach als Ergebnis von Koalitionsverhandlungen bilanzieren, wie viele wir davon durchsetzen konnten, und dann entscheiden, machen wir es oder machen wir es nicht.

Geht's auch konkreter?

Um einige unserer wichtigsten Veränderungswünsche zu nennen: Immigranten- und Flüchtlingspolitik, ökologischer Stadtumbau – Stichwort Verteuerung der Ressourcen –, Tiergartentunnel, Transrapid, Großflughafen, Polizeireform.

Vor Koalitionsverhandlungen stehen immer noch Wahlen. Halten Sie eine rot-grüne Mehrheit aus eigener Kraft wirklich für realistisch?

Ja, das ist meine volle Überzeugung. Die SPD wird im Oktober vor der CDU landen. Ingrid Stahmer ist eine attraktive Spitzenkandidatin und für Diepgen gefährlicher, als es Walter Momper gewesen wäre. Sie zieht Frauen an, Menschen, die eine Politik mit schärferem sozialen Profil wollen, auch junge Leute, das geht bis in unsere Wählerschaft hinein. Und unsere Partei sehe ich genauso stark wie die PDS, wenn nicht sogar stärker.

Aber von einem rot-grünen Projekt ist nicht viel zu sehen?

Das ist richtig, im Moment wird dafür keine Vision entwickelt. Es wird immer nur gerechnet, was alles nicht geht. Frau Stahmer läßt zwar durchblicken, sie könnte mit den Grünen, aber sie ist gegen eine konkrete Koalitionsaussage – das ist zu wenig. Interview: Jens König/

Gerd Nowakowski