Abseits ins Zentrum

■ Jeder seine eigene Reisegruppe: "Individuelles Reisen" liegt im Trend. Karlheinz Gerke hat den ultimativen Individualtrip entdeckt, Karl Anton & Vororth haben ihn begleitet

An seinem 42. Geburtstag beschloß Herr Gerke, sich etwas Besonderes zu gönnen. Die Blondine im Reisebüro versicherte, sie habe genau das Richtige für ihn: eine abwechslungsreiche, wenig besuchte, ja fast jungfräulich zu nennende, dennoch auf ihn, Gerke, quasi zugeschnittene Destination. Garantiert abseits der großen Touristenströme, außerordentlich preiswert noch dazu. Herr Gerke zögerte kurz und willigte ein. Exakt drei Wochen nach seinem 42. Geburtstag landete er dort, wo er vor 23 Jahren zum letztenmal gewesen war, in einer seltsam vertrauten und überaus fremden Gegend.

Ohne Halt begab er sich zum Musée du temps perdu, wo in der „Galerie des amis“ ein Begrüßungsempfang für ihn arrangiert worden war. Menschenmassen wogten durch die weißen Flure. Er erkannte viele der Gesichter – um genau zu sein: alle –, Namen hatte er nur zu einigen parat. Tom Lohr, Hasen-Harald, Inge. Hadschi Wissner, am Kümmerling nippend und noch einigermaßen lebendig, Arm in Arm mit einer bleichen Frida Kahlo und Platzek im ölverschmierten Overall. Zeit zu reden war nicht. Die Bergbauernkinder aus dem „Blauen Strahl“ riefen nach ihren Ziegen, Rudolf, der Russe, sabberte, und Starek wedelte mit seinem Entlassungsschein. Dazwischen Gesichter wie seines, Gerkes, doch unentschiedener und straffer irgendwie.

Mitten im Gewühl glaubte er die Herrn Dylan und Dutschke auszumachen, Groucho Marx plauderte angeregt mit Karl, während John F. Kennedy sich offensichtlich mit Unkas und Winnetou ein wenig schwer tat. Opa Arnold versuchte, Johannes XXIII. loszuwerden und ruderte hinüber zu den Zimmergesellen auf Walz, und, wie peinlich, auch Peter Frankenfeld hatte es sich nicht nehmen lassen.

An einem Pfeiler lehnten ein paar sehr junge Spiegel-Redakteure – war das nicht Otto Köhler? –, aufmerksam belauscht vom brutalen Schneider aus der 7. Klasse. Die Pickel auf seiner Nase so häßlich wie die Warzen an der rechten Hand, der Geruch nach Schweiß so unverwechselbar wie in der 7.

Herr Gerke machte einen Bogen um Harras, der hinterlistig knurrend unter einem Bollerwagen lag (gleich schmerzte die Narbe in der Wade), und stand unmittelbar vor Gabi. An Gabi hatte er in diesem Leben nicht mehr erinnert werden wollen. Gabi, im violetten Wildlederkostüm, deklamierte für die Kiffer aus dem Konstanzer Stadtpark Passagen aus „Howl“. Gabi wirkte sofort und eindringlich, sie war so bezaubernd wie am 10. Mai 1969, als sie gesagt hatte: „Karlheinz, du endest noch mal als Leiter der Kreditabteilung irgendeiner Sparkassenfiliale.“

Nun, es war nicht irgendeine, es war die von Mühlheim-Schlunz. Und er war lediglich stellvertretender Leiter. Bisher. Nicht auszuschließen, daß auch seine Befürchtungen in etwa eingetroffen waren: Sie, glücklich verheiratet, reich und so prominent inzwischen, daß jeder ihre Geschichte kannte, außer ihm, jettete an den Wochenenden zwischen Paris, Miami und Stuttgart-Vaihingen hin und her. Das wollte er nicht genauer wissen. Er flüchtete.

Draußen sog er die frische Luft ein. Das bunte Treiben am Fuß des Museums, dies mußte Vanity Fair sein, der Jahrmarkt. Jede Menge Stände und Tische, und Verkäufer, die durcheinanderschrien: „Glanzpunkte! Prima Glanzpunkte!“ – „Immer wieder super: die erhebendsten Momente!“ An einer Bude, die „Sternstunden“ feilbot, hingen metallen schimmernde Plaketten: „Für ganz kitzlige Angelegenheiten haben wir unsern Herrn Gerke. Roth, Zweigstellenleiter“. Oder: „Hochbett, selbstgebaut“. Oder: „Don Quijote, 1154 Seiten“. Und: „Ach, Karlheinz, Wahnsinn, Du!“ Eine Wand voller Medaillen, jede durchaus einen zweiten und auch dritten Blick wert.

Plötzlich griff ein blonder Hüne Gerkes Arm und brüllte ihm ins Ohr: „Ich hab' genau das Richtige für Sie: Supertiefschläge, gut abgehangene und sehr frische, ganz wie Sie sie hassen.“ Widerstrebend beugte Herr Gerke sich über den Tisch: Plunder. Er blätterte einen Stapel Briefe durch. Überwiegend Dankesschreiben: für mit gleicher Post zurückgeschickte Bewerbungsunterlagen, für unverlangt eingesandte Gedichte, und einer für drei schöne Wochen. Von Gabi. „Du nimmst das doch nicht so schwer, oder?“

Ach was. Uninteressiert wühlte er in einem Packen Fotos: der rote Kadett auf dem Abschleppwagen. Kubitzki mit Sektglas bei seiner Ernennung zum Abteilungsleiter. Die fünf vom Literaturzirkel um die fast verkohlte Gans.

Ohne Vorwarnung schob der Blonde eine Kassette in einen klapprigen Recorder, und aus dem Lautsprecher quäkte eine Stimme: „Mit Ihrer Version des Walzers, Herr Gerke, versündigen Sie sich nicht nur an Johann Strauß, sondern an ganz Wien.“ Es reichte.

Der Weg zur Küste führte durch die Junglas de fantasia. Ein paar einsame Stilblüten hingen matt im stumpfen Grün, kein wucherndes Frischzeug, keine bissigen Gewächse. Zudem hatten die Laute, die aus dem Dickicht drangen, nichts gemein mit dem Ruf der Wildnis, den Herr Gerke an diesem Ort gern vernommen hätte. Eher erinnerten sie an das Fiepen schlafender Hunde, die zu wecken keinen besonderen Nervenkitzel bedeutet hätte. Mit einem Wort: Es war nicht mehr weit her mit dem Ursprünglichen hier.

Am Horizont tauchten die schwarzen Spitzen der Montagna desiderio auf. Steil ragten sie hoch, und doch weniger gewaltig als 1971. Auch waren, soweit sich dies auf den ersten Blick feststellen ließ, keine Bäume in den Himmel gewachsen. Der Friedhof am Fuß des Gebirges aber nahm deutlich mehr Platz ein als früher. Nachdenklich schlenderte Herr Gerke zwischen den Gräbern umher. Da lag das Torwart-Trikot von Hans Tilkowski, nach wie vor einige Nummern zu groß. Ein Roman ohne Titel mit leeren Seiten. Da gab es eine Landkarte von Peru von 1969, und eine Urkunde „1. Fallschirmsprung“, auf der immer noch kein Name eingetragen war. Das Modell eines spanischen Bauernhauses gleich neben einem 30pfündigen Lachs. Herr Gerke kannte alles. Irgendwo hier mußte auch das anerkennende Klopfen des Aufsichtsrats liegen, die unerklärliche Millionenerbschaft – und die Jahre mit Gabi. Alles abgestürzt in den ambition-rocks oder hinterrücks gemeuchelt vom inneren Schweinehund, der in der Gegend sein mörderisches Unwesen trieb. Ein Ort voller Pathos, fand Herr Gerke. Das Flugticket nach Madagaskar nahm er mit. Es war noch zu gebrauchen.

Nicht weit weg stand conviction-house. In der Tat, Herr Gerke konstatierte überrascht, es stand. Nicht umsonst hatten Könner daran mitgebaut: Englischlehrer Steininger, der eigenhändig Leichen aus den Luftschutzkellern eingesammelt hatte, Tante Lene, Heilmann und Coppi, und auch Papa Joe, der ab und an vorbeigekommen war, eine Wand gemustert und gesagt hatte: „Schief, Junge, aber das mußt du schon selber geraderücken.“

Zwar hatten die Stürme der Zeit im linken Flügel einige Löcher gerissen, und ein paar Zimmer standen leer. Doch auch dort waren die Mauern von der Substanz her gut, die neu eingezogenen Stützpfeiler würden die nächsten Jahrzehnte überdauern, selbst die Klärgrube für nationalen Mist war intakt. Eine Baustelle, auf der gearbeitet wird, dachte Herr Gerke. Nicht das Schlechteste nach dem Auf und Ab der letzten Jahre.

Der Weg führte weiter, durch ein Tal voll schwarzer Findlinge. Nebel kam auf, dunkle Schemen huschten über den Weg, nur einzelne waren für einen Moment zu erkennen: Marian Schwonk blätterte grinsend in einer Rolle Hunderter, in Zahnarzt Nadlers Mund blitzte die Goldkrone, den Schwarzen Mann im Heu ahnte man nur, Doktor Russ betrachtete stirnrunzelnd ein Röntgenbild, und eine Hundertschaft Polizisten trommelte auf ihre Schilde. Eigenartig: Vor Jahrzehnten hatten sie alle bedrohlicher gewirkt, eindringlicher. Heute hielten sie Abstand.

Schon war Herr Gerke am Endpunkt seiner Wanderung angelangt: der Anhöhe über dem Abgründigen. Vorsichtig blickte er nach unten. In fünf Metern Tiefe ein Tümpel. Dunstfetzen trieben auf der schwarzen Wasseroberfläche zu flüchtigen Bildern: Kubitzki ganz blaß mit weit aufgerissenen Augen, Gabi ganz süß in ganz wenig Seide, Gerke ganz cool mit unzähligen Fäden in der Hand, umbrandet vom Jubel der Westkurve in der Kampfbahn „Rote Erde“.

Dazwischen spiegelte das Wasser ein Gesicht: bartlos, vollwanging, hohe Stirn. Es gab noch langweiligere, fand Herr Gerke. Die Tiefe des Wassers war von oben nicht zu erkennen. Er beschloß, davon auszugehen, daß sich unter der stillen Oberfläche sehr wohl Unauslotbares verbergen könnte. Und ihn schauderte ein wenig vor heimlicher Bewunderung.

Es war früher Abend, als ihn Roswitha und die Kinder am Flughafen erwarteten. „Na, wie war's?“ fragte Roswitha. „Du wirst es nicht glauben“, sagte Herr Gerke und lächelte still, „eine durch und durch persönliche Angelegenheit. Immer noch ein ganz ansprechender Ort, auch wenn sich mittlerweile einiges verändert hat. Es geht dort jetzt, wie soll ich sagen, ja vielleicht: ganz zivilisiert zu. Eigentlich ein guter Platz zum Leben, dieses Gerke. Eigentlich eine spannende Geschichte, so ein ausgewachsener Egotrip.“ Und die Sache mit Gabi, fand er, würde Roswitha ohnehin nicht interessieren.