Berliner Tagebuch
: Die letzte Zigarette

■ Berlin vor der Befreiung: 7. März 1945

Foto: J. Chaldej/Voller Ernst

Die Einstellung vieler Menschen zum Tod ist erschütternd, sagte eine Ärztin, die ich heute traf. Sie erzählte folgende kleine Geschichte:

Nach dem letzten Fliegerangriff wurde ich zu einem Haus geholt, dessen Ruinen in Flammen standen. Unten im Keller lag ein junger Mann zwischen zusammengestürzten Mauern hoffnungslos eingeklemmt. Er war bei vollem Bewußtsein. Ihn zu retten war unmöglich. Er mußte getötet werden, und das mußte schnell geschehen. Ich sagte dem jungen Mann, daß ich ihm eine schmerzstillende Injektion geben werde, bis einige Männer vom Luftschutz kämen, um ihn auszugraben.

Wollen wir bei der Wahrheit bleiben, antwortete er, es ist aus mit mir. Sie wollen mir nur die letzte Ölung geben. Aber sehen Sie – jeder zum Tode Verurteilte darf einen letzten Wunsch äußern: Her mit der Zigarette, und lassen Sie mich den Glimmstengel genießen, ehe Sie mich auf die große Reise schicken ...

Er kriegte die Zigarette. Dann gab ich ihm die Spritze. Ich tat es mit einem sonderbaren Gefühl. Ist es denn wirklich schon so weit mit uns gekommen, daß eine Zigarette mehr bedeutet als das Problem Leben und Tod ...? Jacob Kronika

Aus: „Der Untergang Berlins“, Flensburg 1946. Kronika, dänischer Journalist (1897-1982), berichtete zwischen 1932 und 1945 für dänische Zeitungen aus Berlin und war zugleich von den NS-Behörden als Sprecher der dänischen Volksgruppe in Südschleswig anerkannt. Er bewegte sich daher ständig zwischen dem Vorwurf der Kollaboration und des Widerstands.

Recherche: Jürgen Karwelat