Resteverwertung

■ Armer Sozialismus: Die deutschsprachige Erstaufführung von Tony Kushners "Slawen!" im Schauspielhaus Hannover

Der Sozialismus ist tot, die Linken trauern. Daß das Ableben eines theoretisch und praktisch derart diskreditierten Popanzes wie der Sowjetunion bei den westeuropäischen Linksintellektuellen noch solche Verunsicherung auslösen konnte, gehört zu den Überraschungen der 90er Jahre.

Nun erreicht die deutschen Theater ein Dokument der linken Trauerarbeit aus einer Weltgegend, aus der man es am wenigsten erwartet hätte: aus der New Yorker Schwulenszene. Dort, wo der naive Traditionshetero die höchste Konzentration von gesellschaftszersetzendem Individualismus wähnt, gedeiht die Sozialismusnostalgie so gut wie im ostdeutschen Plattenbaureservat. Tony Kushner ist durch den Welterfolg von „Angels in America“ als der schwule Erfolgsautor abgestempelt, der es fertig brachte, Aids in Unterhaltung zu verwandeln. „Slawen!“ nun, das allerdings ist das einzig Positive, das sich über sein Stück sagen läßt, kann dieses Fehleinschätzen korrigieren. Es zeigt Kushner als einen politischen Autor, als einen der ratlosen Trauerarbeiter im verwahrlosten Garten des Sozialismus.

Leider setzt Kushner mit „Slawen!“ auch seinen Ruf, ein Dramatiker zu sein, der sein Metier beherrscht, aufs Spiel. Es ist zu offensichtlich eine Resteverwertung von Abfallprodukten aus der Arbeit an „Angels in America“. Der „Phantasie über nationale (amerikanische) Themen“ sollte das „Nachdenken über die althergebrachten (russischen) Probleme“ gegenübergestellt werden. Aber die Parallelisierung scheitert nicht nur an der Ungleichartigkeit der Probleme, sondern auch am begrenzten Erfahrungsbereich des Autors. Über New Yorker Schwule weiß Kushner viel, über Moskauer Lesben nichts. Dennoch schreibt er über sie, aus Gründen der Komplementarität. „Slawen!“ ist kein Stück über das real existierende Rußland, sondern über die Illusionen eines sozialistischen Amerikaners.

Im ersten Akt gelingt die heikle Balance zwischen politischer Satire, leidenschaftlichem Nachdenken und spielerischer Metaphysik am ehesten. 1985, vor der Wahl Gorbatschows, treffen sich im Foyer des Obersten Sowjet einige Apparatschiks und diskutieren über die Veränderbarkeit des Menschen, über Blasenschwäche und Grauen Star, über Stagnation und Fortschritt.

Der älteste Bolschewik mit dem sprechenden Namen Aleksii Antedilluvianovich Prelapsarianov stirbt nach der keinen Theologen überraschenden Einsicht „Gott ist ein Menschewik“, der reformfreudige Jüngere kollabiert nach allzu viel dialektischen Sprüngen und Hüpfern ins Neue, Ungedachte. Alle Äußerlichkeiten sind Politsatire auf den „geriatrischen Materialismus“, alle Gedanken sind Herzblut des Dramatikers. Die sowjetischen Mumien quälen sich mit den Skrupeln eines amerikanischen Sozialisten, doch die Diskrepanz ist gewollt. Die Hannoveraner Inszenierung von K.D. Schmidt hat hier ihre besten Momente, in denen die Verschmelzung von Komik und Pathos gelingt. Alle Figuren sind vom Maskenbildner in Karikaturen sowjetischer Politiker (Stalin, Breschnew, Trotzki) verwandelt, und der Antedelluvianische Urahn rast im Rollstuhl auf die Bühne, bremst quietschend und zetert seine Rede herunter, als käme er aus der Rocky Horror Picture Show.

Rezitierte Statistik

Im zweiten Akt fehlt die Komik, und die Erotik, die das Stück statt dessen anbietet, bleibt fade. In einem Institut zur Erforschung der konservierten Hirne der Führer der Revolution treffen wir Katharina, eine trinkende Lesbe. Ganz kurz wird eine Dreiecksgeschichte angerissen. Der Funktionär, der ihr die Stelle verschafft hat, liebt sie, doch sie liebt eine Kinderärztin. Diese lieblose Skizze einer lesbischen Liebe wird in der Inszenierung noch unglaubwürdiger als im Stück. Lesben auf der Bühne, das scheint für ein deutsches Stadttheater dann doch zuviel zu sein.

Der dritte Akt ist vollends unspielbar, weil Kushner alle Regeln der Problemkomödie, an die er sich sonst gewissenhaft hält, vergißt und sich vom Furor der moralischen Anklage überwältigen läßt. Er setzt ein stummes, durch atomare Strahlung geschädigtes Kind auf die Bühne und läßt dazu die mittlerweile nach Sibirien strafversetzte Kinderärztin eine Litanei von Umweltverbrechen der Sowjetunion herunterbeten. Das ist nicht einmal die Dramatisierung eines Leitartikels, das ist rezitierte Statistik. Erst im Epilog gelingt dem Stück und vor allem der Inszenierung wieder die richtige Mischung von Ironie, Ernst und Sentimentalität: Vom Schnürboden schwebt ein Boot herab, in dem die beiden im ersten Akt gestorbenen Parteifunktionäre sitzen: zwei Bolschewiki im Himmel, verdammt zum ewigen Kartenspiel.

Zu ihnen kommt das auf der Erde stumme Kind, das ihnen nun vom Scheitern des sozialistischen Experiments in der Sowjetunion berichtet. Als sie betreten die Achseln zucken, sagt das achtjährige Mädchen im leiernden Kindersingsang die Lektion auf, die uns von allen Seiten eingebläut wird: „Und was können wir aus der Katastrophe lernen? Vielleicht waren die Prinzipien falsch. Vielleicht ist es wahr, daß soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, Gleichheit, Gemeinschaft, das Ende von Herr und Knecht, das Absterben des Staates; daß all dies wünschenswert, aber auf Erden nicht zu verwirklichen ist... Es wird keine vorstellbare Alternative zu den Verheerungen des Kapitals geben“.

Jedes Kind kennt heute die Lehren aus dem Untergang des Sozialismus. Der Kindermund tut hier kund, daß sie zu simpel sind, um die ganze Wahrheit sein zu können. Gerhard Preußer

Tony Kushner: „Slawen! Nachdenken über die althergebrachten Probleme von Tugend und Glück“. Inszenierung: K.D. Schmidt, Bühne: Bernhard Kleber. Weitere Vorstellungen: 9., 10. und 12. März.