Neue Parteien – bekannte Gesichter

■ Mitte-rechts-Koalition als Siegerin der Parlamentswahlen in Estland

Tallinn (taz) – Estlands neuer Ministerpräsident wird voraussichtlich Tiit Vähi heißen. Die Mitte-rechts-Wahlkoalition des Ex-Ministerpräsidenten Vähi von der „Koalitionspartei“ zusammen mit dem populären Arnold Rüütel von der Bauernpartei gewann die Parlamentswahlen vom Sonntag klar. Mit rund einem Drittel der Stimmen konnte das Gespann Vähi/Rüütel 42 der 101 Parlamentssitze erringen. Die bisherige Regierungskoalition erhielt eine vernichtende Niederlage.

Damit war gestern schon klar, daß der Auftrag zur Regierungsbildung an Tiit Vähi gehen würde. Dennoch dürfte sich die Suche nach einem Koalitionspartner längere Zeit hinziehen: denn zur Zusammenarbeit bieten sich sowohl die Reformpartei des Reichsbankchefs Siim Kallas mit ihren 19 Abgeordneten an, als auch die Zentrumspartei von Edgar Savisaar mit 16 Parlamentariern.

Die Wahl des Koalitionspartners wird zeigen, ob Vähi und Rüütel die Wirtschaftspolitik tatsächlich grundlegend verändern wollen. Nehmen sie Edgar Savisaars Zentrumspartei mit in die Regierung, wird von dem Gespann Rüütel-Savissar eine deutliche Bevorzugung des ländlichen Estlands und ein Stopp der bisherigen Kahlschlagpolitik auf dem Land erwartet. Eine Koalition mit der Reformpartei von Siim Kallas hingegen würde bedeuten, die Privatisierungspolitik ohne Rücksicht auf deren soziale Folgen fortzusetzen.

Die Reformpartei konnte mit 17 Prozent der Stimmen sowohl personell als auch vom WählerInnenanteil her teilweise das Erbe der Vaterlandspartei antreten. Diese, Siegerin der ersten freien Parlamentswahlen in Estland vor drei Jahren, schrumpfte von 39 auf 6 Mandate zusammen und kam damit nur knapp über die 5-Prozent- Sperrklausel.

Ins Parlament kamen erstmals Repräsentanten der russischen Minderheit. Deren Parteiverband „Unser Heim ist Estland“ stellt sechs Abgeordnete. Faktisch alle stimmberechtigten RussInnen wählten ihre eigene Interessenvertretung, wobei allerdings nur ein Fünftel der russischen Minderheit die Staatsbürgerschaft und damit ein Stimmrecht hat.

Insgesamt ein Drittel der tatsächlichen estnischen Bevölkerung war überhaupt nicht stimmberechtigt. Und von denen, die es waren, gingen auch nur knapp 65 Prozent zu den Wahlurnen. Eine Minderheit blieben auch die Frauen im neuen Parlament: waren es 1992 noch dreizehn weibliche Abgeordnete, ist deren Zahl nunmehr sogar noch auf zehn weiter geschrumpft. Reinhard Wolff

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