„Treten, kratzen, beißen!“

■ Gegenwehr bei Vergewaltigung: Polizei Hannover forciert sie, Bremen zögert lieber

Frauen schlagen Vergewaltiger in die Flucht: Viel Aufregung gab es vor gut einem Jahr um eine Hannoveraner Studie zum Verhalten von Frauen bei Sexualstraftaten. Hauptkommissarin Susanne Paul hatte 286 angezeigte Delikte analysiert und belegt: Selbst Frauen, die sich mit zögerlichem, eher passivem Einsatz von Stimme, Armen, Beinen, Werkzeugen oder dem gesamten Körper gegen einen Angreifer wehrten, konnten eine Vergewaltigung verhindern (sie oder der Täter flüchteten). Setzten sich die Frauen körperlich und verbal energisch und aktiv zur Wehr, kam es gar zu über 80 Prozent zu einem Abbruch der Tat. Susanne Paul arbeitet mit den Ergebnissen der Studie jetzt weiter – „Gewalt gegen Frauen? – Selbstbehauptung!“ heißt das Projekt.

„Wir wollen den Frauen signalisieren: Wenn du dich wehrst, dann zeigen wir dir, wie“, sagt die Kommissarin, die Beauftragte für vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung in Hannover. „Ob sie sich wehren, entscheiden immer noch die Frauen selbst.“ Hinschauen, der Wahrnehmung trauen, Entscheiden und Handeln – das sind die Maxime, die Susanne Paul in ihren kostenlosen Selbstbehauptungskursen den Frauen antrainiert. Rollenspiele stellt die Kommissarin dabei an die oberste Stelle, „denn die Frauen sollen spüren, was gemeint ist: Vergewaltigung ist Machtausübung und ein Gewaltdelikt und keine krankhafte Naturkatastrophe.“ Bei den ergänzenden Praxisabenden in der Sporthalle taucht dann entsprechend ein gut gepolsterter, angreifender Trainer auf.

Frauen, die sich wehren, sind aber keine Kampfsportlerinnen, betont Susanne Paul. Ob die Selbstverteidigungstechniken von Jiu-Jitsu oder Wendo überhaupt vor Vergewaltigung schützen können, ist ein umstrittenes Thema. Die Hauptkommissarin distanziert sich davon. Weitaus mehr interessiere es sie, Mut zu machen und einen Handlungsimpuls bei den Frauen aufzubauen und zu erhalten. Viele Kollegen hat Susanne Paul in den letzten Jahren von der Gegenwehreffizienz bei Vergewaltigungsdelikten überzeugen können. Trotzdem findet die polizeiliche Vorbeugungsbeauftragte, Hannover habe gerade durch die Studie zwar viel Aufklärung, aber doch nur einen ersten kleinen Schritt geschafft. Groß bleibe nach wie vor die Dunkelziffer an Sexualdelikten: Einem angezeigten werden bundesweit 20 bis 30 nicht angezeigte zugerechnet.

In Bremen befindet man sich da immer noch in der Entspannungsphase: Nachdem im Frühjahr 93 die freundin Bremen zur Stadt mit den meisten bekannten Vergewaltigungen in Deutschland erklärt hatte, gab die Bremer Polizei ein Jahr später Entwarnung: Es werden nicht mehr Frauen in Bremen vergewaltigt, sondern einfach mehr Anzeigen von Frauen erstattet. Dies wiederum sei der Bremer Polizei gutzuschreiben, die den Frauen zum Beispiel Mehrfachvernehmungen erspare. Eine Erkenntnis, die es erübrigt, auf einen Anstieg der gemeldeten Vergewaltigungsdelikte im Steintor oder in der Neustadt (Kriminalitätsatlas 1993 des Innensenators) zu reagieren. Horst Heyn, Leiter der Abteilung Innere Sicherheit und Ordnung: „Da gibt es immer Schwankungen, und die hohen Zahlen sind Ausdruck unserer guten Zusammenarbeit mit den Hilfsorganisationen.“

Auf die Effizienz von Gegenwehr will sich Horst Heyn überhaupt gar nicht beziehen: „Das ist eine wichtige Sache, ich muß aber die Hannover-Studie erst noch lesen. Wir warten auf andere Zahlen aus anderen Ländern.“ Man tut sich schwer mit der Einordnung der eigenen Selbstbehauptungskurse für Frauen, die vor einem Jahr angefangen wurden. „Wirkungsvolle Abwehrmechanismen“ werden dabei in Sportvereinen vermittelt. „Begeisterte Kursteilnehmerinnen“ meldet die Polizei-Pressestelle. Eine solche Frau sei ihm jedoch in der Alltagsarbeit noch nicht begegnet, sagt Kommissar Rolf Junker mit dem Spezialgebiet Sexualdelikte. „Die Frauen sollen sich wehren – es ist ja alles erlaubt: treten, kratzen, schreien, beißen, spucken.“ Silvia Plahl