Die ganz banalen Pokalgesetze

DFB-Pokal, Viertelfinale: 1. FC Kaiserslautern – FC St. Pauli 4:2 / Zweitligist aus Hamburg verzichtet auf große Gefühle  ■ Aus Kaiserslautern Katrin Weber-Klüver

Bravourös parierte Klaus Thomforde den Foulelfmeter von Stefan Kuntz. Und mit frisch entfachtem Feuereifer setzte der St. Paulianer an zu einem zentimetergenauen 40-Meter-Abschlag in den Lauf von Karsten Pröpper – ein präziser Paß zu Juri Sawitschew, und trocken zog der Torjäger zum 3:3-Ausgleich gegen den 1. FC Kaiserslautern ab. Und als kurz vor der drohenden Verlängerung des Pokalviertelfinales die schon hechelnden Hamburger einen Eckball herausholten und den flatternden Ball Schlindwein, ausgerechnet er, der fußlahme, „Eisendieter“ genannte Manndecker, ins Netz drosch, da war die Sensation am Betzenberg perfekt. Der Zweitligist hatte den Vizemeister auf eigenem Platz aus dem Wettbewerb geworfen. Das sind Geschichten, wie sie nur der Pokal schreibt!

Stimmt gar nicht. Alles, was nach dem Elfmeter kommt, ist gelogen. Als tatsächliches Resümee nämlich ist dies zu vermelden: ein Zweitligist, der „erhobenen Hauptes nach Hause fahren“ (St. Paulis Trainer Maslo) wollte, weil er eine Kanterniederlage vermieden hatte, und ein Sieg des haushohen Favoriten, der standesgemäß seine vier Tore jeweils „zum richtigen Zeitpunkt“ (Kaiserslauterns Trainer Friedel Rausch) gemacht hatte, zugegeben „etwas glücklich“ (selbiger). Manchmal ist Pokal banal, manchmal kommt es ganz genau so, wie es alle vorher schon wußten.

Bedauerlich nur, daß dadurch beim Schlußpfiff eine Art emotionales Vakuum entsteht. Man kann als solcher Sieger am Ende nicht verzückt vor glorreicher Erschöpfung mit erhobenen Armen auf den Rasen sinken. Man kann als wackerer Verlierer nicht verzweifelt tränenreich in nämlichen beißen. Die einen sind schlicht nicht verzückt, die anderen nicht verzweifelt. Es hat ja nur der 25-für- 10-Trophäenkandidat gegen den 160-für-10-Außenseiter gewonnen. Das war's, keine traumhaften Wettquoten, keine Heldengeschichten. Weiter geht's in die nächste Runde. Punkt. Aus.

Und wessen Schuld ist solch Verzicht auf große Gefühle? Man muß das Manko den Hamburgern anschreiben. Es ist schließlich nicht die Aufgabe des Favoriten, Besonderes zu bieten, es ist das Privileg des nominell und faktisch Unterlegenen, den Part mit dem Übersichhinauswachsen, dem delirierenden 150prozentigen Einsatz zu übernehmen. „Ein gutes Pokalspiel abgeliefert“ (Maslo) zu haben, ist schön und gut. Aber, wie die Werbung weiß, in manchen Fällen ist gut nicht gut genug.

Genau wie ihre 5.000 Anhänger war auch die Hamburger Elf mit der fatalen Fehleinschätzung in die pfälzische Provinz gereist, ihre Aufgabe wäre, sich achtbar, tapfer, frech – was auch immer man an gönnerhaften Komplimenten parat hat – zu schlagen. So wie die Fans Gegentreffer notorisch munter mit „Oh, wie ist das schön“ kommentierten und trotzige Gesänge darüber anstimmten, auf eine Reise nach Berlin verzichten zu können, so warteten die Hamburger Spieler darauf, daß die erstklassigen Gegner doch endlich das Ihre zum fälligen Einzug ins Halbfinale tun würden. Zumindest die erste Halbzeit über.

Den Mut zur Manie fanden die Zweitligazweiten erst, als es schon zu spät war, als Lusch und zweimal Marschall bei einem Überraschungszwischentreffer von Sawitschew die Lauterer nach einer guten Stunde zur 3:1-Führung gebracht hatten. Da erst, als die Fans sangen: „Wir scheißen auf Berlin“, waren die Hamburger offensichtlich endlich so entlastet von jeder schwerwiegenden Option auf einen Sieg, daß sie vom verderbt vernünftigen halbdefensiven Standhalten in vorbehaltlos atemlosen Angriffsfußball wechselten. Dieses Erwachen brachte tatsächlich den Anschlußtreffer durch André Trulsen.

Und zum ersten Mal beschlossen in diesem Moment auch die bis dahin so gelassenen Hamburger Fans, daß sie eine Sensation besser fänden als eine genügsame 700-Kilometer-alles-easy-alles-egal- Reise. Einige kurze, prickelnde Minuten lang sah es plötzlich so aus, als sei das „Jetzt geht's los“ auf Rängen und Rasen Programm. Und der vereitelte Elfmeter legte die Idee nahe, daß sich nun die Mythen des Wettbewerbs entfalten könnten. Höchst profan beendete jedwedes Schwelgen Thomas Hengen mit einem kühlen Alleingang zum 4:2 in der 85. Minute.

So also passierten die Lauterer einen weiteren „Meilenstein“ (Stadionsprecher) auf dem Weg zum Titel, waren sie willens, dem Gegner für sein devotes Mitspielen „Komplimente“ (selbiger) zu machen und ihm wofür auch immer „alles Gute“ (Rausch) zu wünschen. So feierten die St. Paulianer Fans noch lange nach dem Spielende wie üblich und wie geplant sich selbst für ihr zahlreiches Erscheinen. Einzig St. Paulis Vizepräsident Hinzpeter bewies sentimentalen Mut zu verklärter Enttäuschung samt handfester Analyse: „Ein Riesenspiel zu machen, genügt nicht – die anderen sind weiter.“

FC St. Pauli: Thomforde - Dammann - Schlindwein, Trulsen - Hanke, Pröpper, Gronau (80. Stisi), Fröhling, Hollerbach (66. Szubert) - Sawitschew, Scharping

Zuschauer: 24.785; Tore: 1:0 Lusch (36.), 1:1 Sawitschew (48.), 2:1 Marschall (49.), 3:1 Marschall (61.), 3:2 Trulsen (67.), 4:2 Hengen (85.)

1. FC Kaiserslautern: Reinke - Kadlec - Roos, Ritter - Lusch (90. Haber), Hamann, Hengen, Lutz, Kuntz - Kuka (77. Flock), Marschall