: Srebrenica, die vergessene Stadt
Die ostbosnische Enklave ist seit über zwei Jahren von der Außenwelt abgeschnitten / Angst vor einem neuen serbischen Angriff ■ Aus Tuzla Erich Rathfelder
Die ostbosnische Stadt Srebrenica ist aus den Schlagzeilen der internationalen Presse verschwunden – aus einem ganz spezifischen Grund: am 2. September 1993 haben die Abgeordneten des serbisch-bosnischen Rumpfparlaments in Pale auf Geheiß ihres Führers Radovan Karadžić beschlossen, keine Journalisten mehr in die eingeschlossenen ostbosnischen Enklaven zu lassen. Damit wurden Konsequenzen aus der für die serbischen Nationalisten negativen Erfahrung mit Sarajevo gezogen. Die massive Präsenz der Medienvertreter in der bosnischen Hauptstadt hatte nämlich immer wieder die Weltöffentlichkeit aufgerüttelt und politischen Druck gegen die Belagerer entfacht. Dies sollte sich im Falle der Enklaven Srebrenica, Zepa und Goražde nicht wiederholen. Und auch nicht in der westbosnischen Enklave Bihać. Die drei Journalisten, die es seit Herbst letzten Jahres dennoch schafften, gegen den Willen der serbischen Behörden in die umkämpfte Region vorzudringen, riskierten dabei Leib und Leben.
Die Rechnung Karadžićs ist bisher aufgegangen. Seit mehr als zwei Jahren leben 43.000 Menschen in der ostbosnischen Enklave Srebrenica völlig von der Außenwelt abgeschlossen. Sie sind umkreist von überlegenen serbischen Truppen. Nur ein kleines niederländisches UNO-Kontingent von 400 Mann ist hier stationiert. „Die Bevölkerung der Enklave befindet sich in einer verzweifelten Lage“, beklagt Jasna Halilagić, eine ehemalige Lehrerin aus Srebrenica, die jetzt in der ostbosnischen Stadt Tuzla lebt und eine Kommission von Flüchtlingen aus Srebrenica leitet. „Seit einigen Wochen werden die serbisch-bosnischen Truppen um Srebrenica verstärkt. Wir wollen im Vorfeld darauf hinweisen, daß es bald zur völligen Katastrophe kommen kann.“
Jasna Halilagić ist nicht gebrochen – trotz ihrer Flucht aus Srebrenica im Herbst 1992 und trotz des Todes mehrerer Angehöriger. Die Lachfalten in dem runden Gesicht der Vierzigerin verraten etwas über die Lebenslust, die hier in der Zeit vor dem Krieg verbreitet war. Ihre energischen Bewegungen drücken den unbändigen Willen aus, gegen das scheinbar unvermeidliche Schicksal von Vertreibung und Vernichtung anzukämpfen. „Noch sind wir nicht abgeschrieben.“ Persönlich sei sie in Tuzla zwar relativ sicher, sie lebe aber in Gedanken täglich mit den Menschen in Srebrenica, die „dort wie in einem Konzentrationslager eingesperrt sind“.
Das Wasser in den Flüssen ist nicht trinkbar
In knappen Worten beschreibt sie die gebirgige Landschaft ihrer Heimat, das harte Klima, „das uns im Winter meterhohen Schnee beschert“, den Erzbergbau und die kargen Böden. Honig und Met seien in Srebrenica und seiner Umgebung niemals geflossen, „selbst das Wasser in den Flüssen ist nicht trinkbar, es führt aufgrund der Minen zuviel Eisen mit sich, nicht einmal zum Wäschewaschen kann man es benutzen“. Und da sei schon ein zentrales Problem für das Überleben der Bevölkerung aufgeworfen. „Die Wasserleitungen aus den Bergen zu zerstören war eines der ersten Ziele der Tschetniks, als sie im März 1992 begannen, die Region anzugreifen“, sagt Jasna Halilagić.
„Wir waren auf diese Angriffe damals gar nicht vorbereitet.“ Rizan Suljagić, ein 50jähriger Ingenieur, der ebenfalls der Flüchtlingskommission angehört, ist erst sehr viel später aus der Enklave entkommen. „Plötzlich kamen sie über die Drina, die Freiwilligenverbände der Tschetniks, die Arkan-Leute. Zusammen mit der Jugoslawischen Volksarmee und serbisch-bosnischen Territorialeinheiten begannen sie, die Bevölkerung, die direkt an der serbischen Grenze wohnte, zu terrorisieren.“ Seine Erschütterung ist ihm anzumerken, als er über die Verbrechen in Bjieljina berichtet, über das Morden in Zvornik und Foca. „Viele Menschen flüchteten nach Srebrenica.“
Immerhin, da sind sich beide einig, habe die Welt damals, 1992, noch sensibler als heute auf die Ereignisse reagiert. Wegen Srebrenica sei im Herbst 1992 das Flugverbot für serbische Flugzeuge über Bosnien-Herzegowina verfügt worden. „Auch die Wirtschaftssanktionen gegen Serbien und Montenegro wurden von der internationalen Gemeinschaft wegen des Vorgehens der Serben in Ostbosnien verhängt. Wohl deshalb sollen die Leute in den Enklaven besonders büßen“, meint Suljagić.
Es sei bis Winter 1993 gelungen, die Verteidigung zu organisieren. „Aber der Hunger wütete furchtbar, es kam sogar zu Fällen von Kannibalismus“, erinnert er sich. Die US-Administration habe wegen der dann einsetzenden Hungersnot die Hilfe für Srebrenica verstärken wollen, aber erst im März seien die ersten Fallschirme mit Lebensmitteln in Srebrenica gelandet. „Damit wurde das Überleben eines Teils der Bevölkerung gesichert.“ Doch die erneuten Angriffe im Mai 1993, so Suljagić, hätten eine neue Fluchtwelle ausgelöst. „Karadžić wollte die direkte Straßenverbindung von Belgrad nach Pale. Deshalb wurde die nahe gelegene Stadt Cerska erobert.“ Der Korridor, der Srebrenica von Tuzla trennte, wurde von den serbischen Truppen um 20 Kilometer verbreitert. „Ab jetzt gab es kaum noch eine Chance, direkte Kommunikation mit dem restbosnischen Gebiet aufzunehmen.“
Immerhin habe die UNO reagiert. Der damalige Unprofor-Befehlshaber General Philippe Morillon sei nach Cerska und später nach Srebrenica gereist. „Der Vormarsch der Serben wurde gestoppt und ein Abkommen über die Lieferung humanitärer Hilfe getroffen.“ Seither würde die humanitäre Hilfe von der serbischen Hauptstadt Belgrad aus nach Srebrenica gebracht.
„Aber auch damit gab es Probleme“, setzt Jasna Halilagić nach. „Das Trinkwasser, das jetzt zur Verfügung steht, enthält zu wenig Jod.“ Um Kropfbildungen, Haarausfall und Immunschwäche zu vermeiden, „mußten wir schon immer viel Salz dem Essen zufügen“. Und das hätten auch die „Aggressoren“ gewußt. „Deshalb versuchten sie im letzten Jahr zu verhindern, daß durch die Hilfslieferungen Salz nach Srebrenica kam. Salz durfte nicht geliefert werden.“ Erst als die Lage dramatisch wurde und sich der Druck auf die Vereinten Nationen verstärkte, sei es im Januar dieses Jahres gelungen, über 5.000 Kilogramm Salz in die Enklave zu bringen. „Aber es ist immer noch nicht genug.“
Auf den Straßen von Tuzla, der ostbosnischen Industriestadt, wimmelt es von Menschen. Es sind viele Flüchtlinge aus Ostbosnien darunter. Zählte die Region Tuzla vor dem Krieg um die 600.000 Einwohner, so sind es jetzt 900.000 bis eine Million. „Für uns kommt es darauf an, unsere Industrien wieder in Gang zu setzen, die chemische Industrie, den Handel, dann können wir aus eigener Kraft den Flüchtlingen helfen.“ Selim Beslagić, der Bürgermeister, möchte den Krieg am liebsten vergessen. „Doch er holt uns immer wieder ein, ein erneuter Angriff auf Srebrenica scheint bevorzustehen.“
Die Frage, was dann passieren wird, bewegt nicht nur die Gemüter der bosnischen Militärs. „Dann werden wir wohl kämpfen müssen“, ist die allgemeine Stimmung. Alle Männer der Region sind mobilisiert. „Srebrenica und die Enklaven sind das Faustpfand für Karadžić, der uns die Hände binden will. Würden wir anderswo eine Offensive unternehmen, zur Befreiung Sarajevos beispielsweise, wäre ein Feldzug gegen die Enklaven abzusehen“, erklärt ein Offizier. Er weist auch auf eine andere Taktik der Serben hin. Es bestünde nämlich ein Angebot von Karadžić an die Regierung in Sarajevo, einen Bevölkerungsaustausch vorzunehmen. Die Muslime der Enklaven würden dann nach Tuzla verbracht, im Gegenzug erhielte die bosnische Regierung die Kontrolle über die Umgebung von Sarajevo, das dann an Restbosnien angeschlossen werden könnte.
Ein Radio für die Menschen in den Enklaven
„Sollte die Regierung sich dazu entschließen, dann würde hier ein Sturm der Entrüstung entfacht.“ Dr. Mevlida Kunosić Vlajić, eine Hochschulprofessorin, die nun für die Stadtverwaltung arbeitet, ist erregt. Die Region Tuzla, so auch einige der Mitglieder der Kommission für Srebrenica, würde dann gegen Sarajevo revoltieren. „Die ostbosnischen Gebiete dürfen nicht aufgegeben werden.“
Wird aber die bosnische Armee in der Lage sein, Srebrenica zu verteidigen oder gar wieder an das restbosnische Gebiet anzuschließen? Im Hauptquartier des Sektors Nord-Ost der Blauhelme, das in den Gebäuden des Flughafens untergebracht ist, hält man ein solches Gedankenspiel für wenig wahrscheinlich. „Nach Lage der Dinge kommen weder eine militärische Befreiung noch ein Bevölkerungsaustausch in Frage“, erklärt General Gunnar Ridderstad, der schwedische Kommandeur. Von organisatorischen Vorbereitungen der UNO-Truppen für den Fall eines Bevölkerungsaustausches will er nichts wissen. „Es verstößt gegen die Grundsätze der UNO, an ethnischen Säuberungen teilzunehmen. Es werden nur Schwerkranke evakuiert.“
Keine 20 Kilometer von Tuzla entfernt befindet sich die Station von Radio Zvornik. Direkt an der Frontlinie gelegen, sendet die Station abendlich ein dreistündiges Programm für Srebrenica und „alle Menschen in den besetzten Zonen“. Amela, die junge Sprecherin, die vor zwei Jahren aus Zvornik vertrieben wurde, fragt sich, wie es ihren alten serbischen Freunden jetzt wohl gehe. Immer noch vermag sie sich nicht vorzustellen, daß „alle meine Freunde zu den Tschetniks gehören, die unser gemeinsames Bosnien zerstören“. Ihr Blick schweift in die Ferne, dorthin, wo Zvornik liegt. „Bosnien, das reicht bis an die Drina, und so wird es wieder sein.“
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