Ein bißchen mehr Chancengleichheit

■ Hans-Günther Rolff, einer der wissenschaftlichen Wegbereiter der Gesamtschule, verteidigt diese Schulform nach wie vor

taz: Gesamtschul-LehrerInnen in NRW sprechen von ihrer Schule als „pädogogischer Fehlkonstruktion“. Sie gehörten dem Experimentalausschuß des Deutschen Bildungsrates an, der vor 26 Jahren die Gesamtschul-Empfehlung erarbeitet hat. Ist die Gesamtschule gescheitert?

H.-G. Rolff: Von Scheitern kann keine Rede sein. Es ist schon seltsam, wie jetzt die Diskussion läuft: Wenn ein paar LehrerInnen die Gesamtschule kritisieren, bringt das riesige Schlagzeilen, während die jahrzehntelange Kritik von Gymnasial- oder HauptschullehrerInnen an ihren Schulen keinerlei Beachtung findet.

Wegen der Konkurrenz mit starken SchülerInnen, sagen die KritikerInnen, sinke das schulische Wohlbefinden der Schwächeren an den Gesamtschulen – sie wären in der Hauptschule zufriedener.

Die bisherigen Untersuchungen besagen das Gegenteil. GesamtschülerInnen zeigen zudem die geringste Schulangst und die größte Selbständigkeit. Die Kritik klingt für mich fast zynisch. Da wird ja behauptet, wenn man Menschen von vornherein ausgliedert und separiert, AusländerInnen in Ghettos, HauptschülerInnen in Hauptschulen, dann ist das für die besser als die Integration. Wieso die Trennung besser sein soll, ist mir völlig schleierhaft. Bis 1918 gab es das ja auch im Grundschulbereich. SchülerInnen, die ins Gymnasium sollten, wurden extra unterrichtet. Dann kam die Grundschule in der Weimarer Republik, die eine gemeinsame Basis für alle Kinder schuf. Die war damals genauso umstritten wie heute die Gesamtschule. Die SchülerInnen sind heute sehr viel heterogener als früher. Mich ärgert, daß die Probleme des gesamten Schulsystems im Umgang damit nur am Beispiel der Gesamtschule diskutiert werden.

In Hessen kehrt eine der ältesten Gesamtschulen aus pädagogischen Gründen zum dreigliedrigen System zurück.

Ich kenne diese Schule nicht. Das Kollegium glaubt dort offenbar, daß ein integrierter Unterricht bis zum 10. Schuljahr zu schwer fällt. Ich bin nach wie vor überzeugt, daß die Gesamtschule auf die neuen Probleme der heute anders aufwachsenden Kinder und die schwindende Erziehungskraft in den Familien wesentlich besser eingeht als das dreigliedrige Schulsystem. Sie bietet mehr Möglichkeiten, indem sie die Selbständigkeit fördert und durch soziales Lernen etwas gegen die Kindheit als Einzelkindheit tut. Eine Menge davon haben die anderen Schulen inzwischen übernommen. Die Ungleichheit in einer sich atomisierenden Gesellschaft, in der an manchen Frühstückstischen anspruchsvolle Gespräche geführt werden, in anderen nie, kann kein Schulsystem dieser Welt aufheben. Die Gesamtschule kann ein bißchen mehr Chancengleichheit realisieren. Daß ausgerechnet ihr nun vorgeworfen wird, sie könne nicht die totale Chancengleichheit herstellen, scheint mir absurd.