piwik no script img

Ja zum Ich sagen

Anthroposophische Suchthilfe für Alkoholiker in Berlin / Sucht als Ausdruck von Selbstverachtung  ■ Von Matthias Fink

Mindestens ein nichtalkoholisches Getränk auf der Speisekarte muß weniger kosten als das billigste der „geistigen“ Getränke. So verlangt es das Gesetz seit einigen Monaten von jeder Gaststätte in Deutschland. Keine Probleme gab es mit dieser Neuregelung in der anthroposophischen Caféstube des Hiram-Hauses in der Gotenstraße, obwohl die Gaststätte durchaus ein Kiez-Treffpunkt auf der „Schöneberger Insel“ ist. Das Café schenkt grundsätzlich keinen Alkohol aus. Und doch ist willkommen, wer regelmäßig Alkohol trinkt: In der Caféstube können sich Menschen mit Alkoholproblemen über Hilfsangebote aus anthroposophischen Kreisen informieren.

Während der Öffnungszeiten steht das Cafépersonal als Ansprechpartner bereit. In Broschüren wird informiert über Beratungen und Selbsthilfegruppen, auch über andere Aktivitäten der anthroposophischen Vereine, die in der 1985 gegründeten Hiram-Initiative zusammenarbeiten. Der Anstrich der Räumlichkeiten läßt die anthroposophische Ausrichtung des Cafés erkennen. Aufdrängen möchte man sich den Gästen dabei nicht. „Wir fragen nicht: ,Willste nicht mal wissen, warum hier so 'ne Farben hängen?‘“, betont Ralph Melas Große, einer der Organisatoren.

Vier Wohngruppen mit insgesamt 25 Plätzen für Suchtgeschädigte betreut der Hiram-Haus-Verein in Berlin. Dieses Angebot richtet sich an Betroffene mit schwereren Schäden durch Alkoholmißbrauch. Spezialisiert sind die Hiram-MitarbeiterInnen auf die Behandlung der Korsakow- Psychose, bei der das Kurzzeitgedächtnis geschädigt ist.

Die Grenzen, die einem Gesundungsprozeß in der Großstadt gesetzt sind, versucht der Hiram- Verein zu überwinden. Das erste Land-Projekt, ein „resoziales Wohnheim“ wurde 1990 auf Eiderstedt in Schleswig-Holstein eröffnet. Den acht Betroffenen, die dort leben, sollen die Vorzüge von Landleben und Gartenarbeit zugutekommen. Auch die Feste des anthroposophischen Jahreskreises (Weihnachten, Ostern, Sommerfest und Michaelistag) werden dort gemeinsam gefeiert. Bisher stehen für Suchtkranke im ländlichen Wohngruppenzentrum in Neudorf (Kreis Barnim) 19 Plätze zur Verfügung, demnächst sollen sie auf 40 aufgestockt werden.

Das ambulante Angebot in Schöneberg umfaßt neben der Suchthilfe noch verschiedene andere Kurse und Veranstaltungen. Spezielle anthroposophische Themen wie „Das siebenfältige Ich“ stehen neben allgemeineren Dienstleistungen wie Sozial- und Gesundheitsberatung. „Der Renner im Moment“, so erklärt Ralph Melas Große, ist die „Trennungsgruppe“, die auch schon für Beziehungsprobleme vor der Trennung offen ist.

Ralf Weiß-Christiansen von der Berliner Landesstelle gegen Suchtgefahren sieht den anthroposophischen Ansatz bei der Suchthilfe als gleichwertigen „Teil einer ganzen Palette“ von Hilfsangeboten in der Stadt. „Das Spektrum ist sehr unterschiedlich. Wir empfehlen allen Leuten, sich umzusehen, welcher Ansatz ihnen am meisten zusagt.“

Das Bedürfnis nach neuem Sinn im Leben hat schon manche Betroffenen gezielt zu anthroposophischen Therapieangeboten kommen lassen. Joachim Grollmann vom Hiram-Haus sieht die Suche nach etwas Neuem als Charakteristikum für diese – freilich nicht allzu große – Gruppe von Klienten: „Die Leute wollen vom Alkohol wegkommen und fragen sich dann: ,Was gibt es sonst noch im Leben?‘“. Auf die Anthroposophie gestoßen werde trotzdem niemand. Uwe Fleischer, im Hiram- Haus tätiger Heilpraktiker, schätzt den eigenen Standpunkt als eher ergebnisoffen ein: „Viele andere Therapie-Einrichtungen wollen die Leute irgendwo hinbringen, und sei es zum Erfolgsmenschen. Wir wollen die Leute nirgendwo hinbringen.“ Vielmehr werde der Appell an die Eigenverantwortung der KlientInnen großgeschrieben: „Woanders sind manchmal die Therapeuten die Kings und schweben über allem. Wir bemühen uns dagegen, Begleitung zu geben. Die eigentliche Arbeit müssen die Klienten selbst leisten.“ Die Quote der Betroffenen, die nach zwei Jahren immer noch „trocken“ sind, beziffert Fleischer auf 60 bis 70 Prozent. „Das entspricht dem Wert, der bei Selbsthilfegruppen üblich ist.“

Von den Hiram-MitarbeiterInnen, viele selbst früher mit Alkoholproblemen, sind nicht alle, aber doch viele anthroposophisch orientiert. Das Menschenbild spielt also bei der Behandlung eine beträchtliche Rolle. Sucht ist demnach nur ein Ausdruck von Selbstverachtung und unerfüllter Suche nach Lebensinhalt. Wer es lernt, ja zum eigenen Ich zu sagen, wird dann auch die Abhängigkeit überwinden. Fleischer sieht deshalb Alkoholismus als Teil eines umfassenden Trends in der Gesellschaft. „Suchtkranke stehen im Kampf um ihre Individualität. Das geht heute jedem so – aber bei Suchtkranken hat er eine verschärfte Form erreicht“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen