: Wachküssen und Weiterleben
■ Psychologen schwören auf die therapeutische Wirkung von Märchen / In den alltäglichen Eltern-Kind-Beziehungen kommt das Erzählen von Geschichten und Märchen zu kurz
Gebrüder Grimm? „Die kommen mir nicht ins Haus“, sprach unlängst eine Bekannte und Mutter zu mir. Es sei denn auf einem Tausendmarkschein, fügte sie hinzu. Derart brutale Märchen seien für die Entwicklung der Kinder keinesfalls gut.
„Erwachsenenängste“, meint dazu Dörte Foertsch, Familientherapeutin im Berliner Institut für Familientherapie e.V. „Kinder wissen sehr wohl zu trennen zwischen Märchen und dem alltäglichen Leben. Sie können das viel besser als ihre Mütter oder Väter.“
Erwachsene interpretieren Märchen. Sie streiten darüber, ob Frau Holle eine Anleitung für gute Hausfrauen oder eine Initiation von Frauen in die matriarchalische Welt, der Weg vom Mädchen zur jungen Frau als Prozeß der Erlangung einer höheren Bewußtseinsebene ist. Autoren wie Ottfried Preussler („Die kleine Hexe“, „Der Räuber Hotzenplotz“ oder „Das kleine Gespenst“) werden heftigst geschmäht, weil sie unbeirrt auf Erfolge im Menschlichen setzen. Das Sandmännchen Ost, der einer Märchenfigur von Hans Christian Andersen nachempfundene Spitzbart, galt als ideologisch verseucht und überlebte nur dank einer Protestwelle von Kindern und Eltern die deutsche Einheit.
„Kinder haben genügend Distanz zu Märchen. Sie erkennen deren andere Sprache und deren Symbole. Erst durch Gut und Böse, durch Schwarz und Weiß begreifen sie das Dazwischen.“
Kinder brauchen Märchen. Sie brauchen vor allem die Beziehungskonflikte in ihnen. Hier sieht die Therapeutin auch den Anknüpfungspunkt für ihre Arbeit. Trennung, Mißbrauch, Armut, ins Heim gehen – Kinder, mit denen sie zu tun hat, mußten Erfahrungen sammeln, durch die ein direkter Zugang zu ihnen nicht mehr möglich ist. Märchen werden zu Mittlern. In Fällen sexuellen Mißbrauchs erweist sich die Geschichte vom Allerleirauh als besonders geeignet. Das Mädchen, das sich, nur mit einer Tierhaut bekleidet, versteckt und allein durchs Leben schlägt. „Das Fell steht hier als Symbol dafür, sich selber wärmen zu können.“ Auch andere Märchen erleichterten den Zugang bei Inzest-Problemen. So zum Beispiel Schneewittchen, die von der Schwiegermutter verstoßen wurde, weil der Vater die Tochter zu sehr liebte. Hänsel und Gretel setzt dort an, wo Geschwister zusammenhalten sollen, um beispielsweise die Einlieferung in ein Heim durchzustehen.
Kinder, die äußern, daß sie nicht mehr leben wollen, waren, so Dörte Foertsch, unter anderem Thema einer Fortbildung für Erzieher in der vergangenen Woche. Daß sich Schneewittchen oder auch Dornröschen bei der Selbstmordproblematik als ausgesprochen hilfreich erweisen, verblüffte die Therapeutin nur wenig. „Wachküssen und Weiterleben ist hier der Ansatz.“ Märchen durch die therapeutische Brille betrachtet – in Geschichten stecken Lösungen, und diese suchen Kinder sich heraus. Dörte Foertsch wäre es natürlich lieber, wenn das eigentliche Märchen-und-Geschichten-Erzählen in funktionierenden Eltern-Kind-Beziehungen auf die heimischen vier Wände beschränkt bliebe. Doch die wenigsten Väter oder Mütter nehmen sich die abendliche halbe Stunde zum Vorlesen, sehen sich mit Kindern Märchenfilme an oder schenken Bücher.
An Angeboten mangelt es dabei keinesfalls, meint die Familientherapeutin und Mutter zweier Kinder. Der Froschkönig im „Eurythmie Ensemble“ oder Rotkäppchen im Theater o.N. am Kollwitzplatz – allein der Blick auf den heutigen Berliner Veranstaltungskalender hält für die Drei- bis Achtjährigen allerlei parat. „Oder wenn ich in einem Kinderbuchladen stehe, bin ich aufgrund der Fälle ja erst einmal orientierungslos.“ Was jedoch auf der Strecke geblieben ist, beschreibt Dörte Foertsch mit einer Art familiärer Geschichten- Erzähl-Kultur. „Jahrhunderte alte Erzähltraditionen sind in unseren Breiten völlig verkümmert. Und die Frage steht, ob man diese in irgendeiner Form neu beleben kann, nicht nur in bezug auf klassische Märchen. Aber kann man Eltern das Erzählen heutzutage überhaupt wieder beibringen?“
Die meisten Kinder sind auch in Berlin einen Großteil der Zeit sich selbst überlassen. Sechs- bis Dreizehnjährige sehen täglich durchschnittlich anderthalb Stunden fern. Das eigentliche Defizit ist jedoch nicht, daß in die Glotze gesehen wird, sondern daß es in dieser Zeit in der Regel keinen Eltern- Kind-Kontakt gibt. Sich gemeinsam bei Grimms „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ zu gruseln, ist also allemal besser, als den Sprößling mit Tom und Jerry allein zu lassen. Kathi Seefeld
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