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Großstadtabenteuer aus der Dose

Jugendliche lassen sich trotz zunehmender Kriminalisierung und großangelegter Hausdurchsuchungen nicht von ihren nächtlichen Sprühaktionen abhalten  ■ Aus Berlin Wolfgang Farkas

Der warme, feuchte Atem ist das einzige Lebenszeichen, das die neun Jungs in diesem Moment von sich geben. Sie hocken bewegungslos im Gebüsch, zwischen Friedhofsmauer und Kanal, und schauen den beiden Polizisten hinterher, die zwanzig Meter weiter mit ihren Taschenlampen nach den Tätern suchen. Aber unter dem Bogen der Kanalbrücke ist kein Mensch. Die beiden Schattengestalten in Zivil verschwinden wieder, lassen den Motor ihres blauen Audi an. Dann springen sie aus dem Wagen, laufen auf einen verdächtig erscheinenden jugendlichen Spaziergänger zu – und nehmen ihn vorläufig fest.

Die neun im Gebüsch sagen immer noch kein Wort. Eigentlich wollten sie über einen Schacht oberhalb des Kanals in einen U-Bahnhof klettern und dort einen „Zug machen“. Doch das Risiko ist jetzt zu groß. „Aktion abgeblasen“, flüstert der 18jährige Phil, „morgen nacht wieder.“ Auf leisen Sohlen und mit Rucksäcken und Tüten, in denen viel zu laut Sprühdosen klackern, entwischt die Gruppe über den Friedhof.

Gelegentlich gibt's Prügel

Nicht immer ist das Katz-und- Maus-Spiel von Polizei und Sprayern so harmlos. Auf beiden Seiten wird von Fällen berichtet, in denen schon einmal Blut fließt oder Knochen krachen. Ein Mitarbeiter vom Berliner S-Bahn-Wachschutz Siebel erzählt, wie ein Sprayer einen seiner Kollegen mit einem Schlagring regelrecht „bearbeitet“ haben soll. Für Sprayer Phil wiederum, der nicht gerade gefährlich aussieht, ist es schlicht Selbstschutz, wenn sich Jugendliche bei ihren nächtlichen Touren bewaffnen: „Einmal ist ein ziemlich unerfahrener Freund nach einer S-Bahn-Aktion am Westkreuz nicht schnell genug abgehauen. Zwei vom Wachschutz Boss haben ihn gepackt, seine linke Hand auf das Gleis gelegt und mit dem Knüppel draufgeschlagen.“ Auf diese Weise hätten die Männer seinem Freund einige Finger gebrochen – und ihn dann laufenlassen.

Seit am 13. Januar dieses Jahres die Graffiti-Szene Berlins von der bis dahin bundesweit größten Razzia – 85 zeitgleiche Hausdurchsuchungen in den frühen Morgenstunden – überrascht wurde, ist die Anspannung auf beiden Seiten gestiegen. Doch die Kids denken gar nicht daran, eines der vielleicht letzten Großstadtabenteuer aufzugeben. Ihre Reaktion ist eher: schneller, leiser, härter. HipHop- Aktivist Adrian, seit zwölf Jahren in der Szene und Gründer einer Rechtsberatung für strafrechtlich verfolgte Kids: „Ich werde auch noch sprühen, wenn ich selbst mal Kinder habe. Ich kann gar nicht anders.“ Warum können Jugendliche nicht anders? Warum werden Jugendliche immer härter verfolgt, „nur weil wir bunte Bilder malen“, wie Adrian sagt?

Für die Polizei ist der Fall klar. „Egal wie schön ein Piece auch sein mag“, sagt Michael Havemann, Leiter der Sonderkommission „Graffiti in Berlin“, „unsere Aufgabe besteht darin, Straftäter dingfest zu machen. Und wer eine Wand oder einen Zug besprüht, begeht eine Straftat: Sachbeschädigung.“ Genau mit dieser Beschuldigung laufen derzeit allein in Berlin etwa 1.000 Ermittlungsverfahren, 380 stehen in Zusammenhang mit den Durchsuchungen; die ersten rund 20 Anklagen sind bereits erhoben worden.

Auch die Berliner CDU läßt sich nicht zweimal bitten, wenn es darum geht, Sprayern die Sprühdose zu entreißen. Der CDU-Politiker Dieter Hapel, der den Verein „Nofitti“ ins Leben gerufen hat, sieht in der Graffiti-Szene „Vandalen am Werk, die unsere Stadt zerstören“. 95 Prozent der Szene seien männlich. „Das sind Zustände wie in der Steinzeit. Eigentum zählt nicht: Wer mir nicht paßt, dem schlage ich die Keule auf den Kopf.“ Hapel plant als Gegenmaßnahme neben einer Selbsthilfebroschüre („Wie schütze ich mich gegen Graffiti?“) eine großangelegte Unterschriftenaktion am 1. April auf dem Ku'damm. Motto: Sprayer sind kriminell.

Solche Kampagnen sind nach Ansicht von Ulrich Puritz, Kunstlehrer des Kreuzberger Schulprojekts „Stadt als Schule“, eine glatte Themaverfehlung. Allein schon deshalb, so Puritz, weil Sprayer normalerweise weniger kriminelle als vielmehr höfliche und disziplinierte Menschen seien. „Ein echter Sprayer gibt dir als erstes die Hand und respektiert dich, egal ob du arm oder reich, schwarz oder weiß bist“, sagt er. Zuletzt hat Puritz der Bahn AG einen Entwurf für ein offizielles Graffiti-Projekt vorgelegt; Zusammen mit einem Dutzend Jugendlicher möchte er die grauen Wände des Nordbahnhofs mit „farbenprächtigen, den Raum öffnenden Bildern durchbohren“. Die Chancen für diese legale Graffiti-Aktion stehen laut Puritz recht gut. Von einer Trennung in legale und illegale Sprayer hält er aber nicht viel. „Auch Jugendliche, die nachts sprühen gehen, finden es gut, wenn sie bei der Gestaltung legaler Flächen einmal richtig Zeit für die Feinarbeit haben.“

So international wie Jazz

Die immer härtere Verfolgung junger Sprayer kann Ulrich Puritz schon gar nicht verstehen; vielmehr bewundert es der 46jährige Lehrer, mit welcher Energie sich die Kids mit der Umwelt auseinandersetzen und neue Kommunikationsformen erproben. „Bei den Sprayern“, sagt er, „geht es ähnlich multikulturell zu wie bei Jazzsessions. Die Sprache der Sprayer wird weltweit verstanden.“ Barbara Uduwerella, Leiterin des HipHop-Zentrums in Hamburg, sieht das ähnlich: „Während Politiker vom europäischen Haus nur reden, haben die Kids längst angefangen, es zu bauen und bunt zu machen. Ihre gemeinsame Währung sind Dosen und Magazine.“

Viele der Sprayer haben aber momentan ganz profane Sorgen. Etwa, wann und wie sie wieder an ihre persönlichen Dinge kommen, die die Polizei bei den Hausdurchsuchungen im Januar beschlagnahmt hat – darunter 24 Spargelgläser („Das ist doch nicht normal“, so ein Beamter), Fotoapparate und neue Filme, Schneidegeräte für Videos, aber auch Tagebücher und Fotos von Freunden. Ein anderes Problem: Von den Hausdurchsuchungen sind die Eltern der sprühenden Kinder betroffen. Der Mutter der Sprayerin „Belgien“ empfahlen die Beamten darüber nachzudenken, wie sie ihr Kind anständig erziehen könne. Die Mutter dachte nach. Nun muß die siebzehnjährige „Belgien“ in den nächsten Tagen ausziehen. Was die Sprayerin jedoch nicht davon abhalten wird weiterzumachen.

Doch nicht alle sind so hart im Nehmen wie „Belgien“ oder wie Adrian. Es gibt auch Jugendliche, die den ständigen Druck und das Risiko gewalttätiger Auseinandersetzungen nicht mehr in Kauf nehmen wollen. Der 18jährige „Prime“ etwa, thailändischer Abstammung, war drei Jahre lang nachts in Aktion. Heute macht er nur noch Auftragsarbeiten – nicht unbedingt aus finanziellen Gründen, sondern weil er Angst hat, daß sich eine Situation wie vor zwei Jahren wiederholen könnte. Damals wurde er nach einem Fluchtversuch in einem Schrebergarten von zwei Polizisten gestellt. Sie sprangen auf ihn drauf und verprügelten ihn, erzählt er. Er hatte sich niemals vorgestellt, daß es im Ernstfall so hart zugehen würde.

Deshalb ist Prime seitdem in anderen Bereichen aktiv: Er moderiert auf dem Radiosender „Kiss FM“ ein HipHop-Magazin, schreibt einen Roman über einen jungen Sprayer auf der Suche nach Identität („Mein Vorbild: Der Fänger im Roggen“) und beteiligt sich an legalen Graffiti-Projekten. „Es kommt darauf an“, sagt Prime, „daß sich Jugendliche, egal in welcher Form, die Stadt zurückerobern. Man findet sich hier nicht wieder, nicht in den riesigen Firmenlogos und auch nicht in den Fassaden der Erwachsenenwelt. Also setzt man seinen eigenen Namen dagegen, sooft es geht.“

Es geht, öfter als die Polizei erlaubt. Und die Sprayer sind dabei aus einem einfachen Grund fast immer im Vorteil: „Die Bullen machen nur ihren Job“, sagt Adrian. „Wir aber tun es, weil es uns ein unbeschreibliches Gefühl gibt; ein Gefühl, das niemand verstehen kann, der es nicht selbst einmal erlebt hat. Das Cindy-Prinzip“, sagt er in Anspielung auf das Fotomodel Cindy Crawford: „Sich auf Cindy einen runterholen und Cindy ficken – das sind zwei völlig verschiedene Dinge.“

Sie ziehen wieder los

Phil und seine Freunde sind nach der geplatzten Aktion letzte Nacht schon heute abend wieder losgezogen. Diesmal sollte es keine U-Bahn im Zentrum sein, sondern eine S-Bahn, irgendwo weit draußen am südöstlichen Rand Berlins. Auf der Hinfahrt machen sich die Jungs – darunter zwei Abiturienten, ein Malerlehrling, ein Arbeitsloser und ein türkischer Schüler – warm, indem sie mit ihren Filzschreibern die Scheiben der S-Bahn „taggen“, also mit ihren Namenskürzeln versehen. Sprung aus dem einfahrenden Zug, zehn Minuten Fußweg durch ein finsteres Waldstück, und bald sieht man den ersten Zug, der wie ein riesiges Insekt auf dem Abstellgleis parkt.

Jetzt checken zwei der Jungs, ob sich irgendwo der Wachschutz bereit hält; die Luft ist rein. Gummihandschuhe übergestreift, Dosen geschüttelt – und die fünf stellen sich im Abstand von fünf Metern vor die Waggons. Farbe zischt aus den Dosen, tsch, tsschtsch, tschschschsch, tsch, wie der Code einer verschlüsselten Botschaft. Plötzlich geht das Heizungsgebläse des Zugs an, kurze Schrecksekunde, ruhig bleiben, weitermachen. Was die Crew nicht weiß: Nach einer halben Stunde treibt der Nordwind den Geruch des Sprühlacks in die Nasen zweier S-Bahn-Wachen, die einige hundert Meter weiter postiert sind. Die beiden Männer der Wachfirma Siebel glauben zunächst, daß sie sich täuschen würden. Aber dann gibt es keinen Zweifel mehr: Sprayer.

„Stehenbleiben! Polizei!“ Das Geschrei zerreißt die Stille. Die beiden blau Uniformierten stürmen mit erhobenen Knüppeln auf die Sprayer zu. Als ginge es um ihr Leben, rennen diese blitzschnell über die Gleise und verschwinden im Wald. Zurück bleiben nur unzählige halbleere Dosen – und fünf bunte unvollendete Bilder auf dem S-Bahn-Zug.

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