Die sanfte Trauer von Lissabon

■ Teresa Villaverdes Drama „Geschwister“ heute beim Filmfest

Das Glück ist schon vergangen! Maria ist zwanzig, und ihre Familie zerbricht mit einer schrecklichen Unausweichlichkeit. Flüsternde Kinderstimmen sind alles, was von den glücklicheren Tagen übrigblieb: „Was ist das Leben?“ – „Wenn kleine Mädchen Ringelreihen spielen.“ – „Ich glaube alles, was du mir erzählst“, verspricht die kleine Maria einem ihrer beiden Brüder. Von der Liebe der drei Geschwister erzählt Teresa Villaverde in ihrem Film, und davon, daß Maria am tiefsten liebt und deshalb auch am meisten leiden muß.

Wie ein kleiner Vogel wirkt Maria de Medeiros in dieser Rolle – drahtig, mit schnellen, nervösen Bewegungen, und dann diese riesigen, dunklen Augen. In einer kurzen Traumsequenz verwandelt das Mädchen sich auch tatsächlich während eines kühnen Luftsprungs in einen flatternden Spatzen. Sie ist verletzlich, stark, schüchtern, sanft ud traurig: eine der widersprüchlichsten und lebendigsten Frauenfiguren des europäischen Kinos der letzten Jahre. Maria de Medeiros hat für diese Rolle den goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig bekommen, durch sie wird dieser Film zu einem Genuß. Sie und Lissabon sind die brillianten Hauptdarstellerinnen in diesem Film. Denn auch wenn von Tanner bis Wenders schon viele entdeckt haben, wie schön man diese Stadt in Szene setzen kann – so klar und verführerisch wie hier hat noch kein Filmemacher die Sonne auf ihre Straßen scheinen lassen.

Maria scheint die Kleinste und Schwächste in ihrer Familie zu sein, aber während die Mutter und die Brüder sich geschlagen geben und Maria mit dem blinden und gefühllosen Vater zurücklassen, kämpft und arbeitet diese bis zuletzt mit zäher Kraft. Dabei schließt sie zögernd Freundschaft mit zwei Frauen, die von Schauspielerinnen gespielt werden, die durch ihre Rollen als starke, selbstbewußte Charaktere bekannt wurden: Laura Del Sol (Sauras „Carmen“) und Mirielle Perrier („Boy meets Girl“ von Carax). Aber auch deren Solidarität macht Marias Einsamkeit nur noch deutlicher.

Auch mit der sehr pointiert gesetzten und einfühlsamen Filmmusik, deren Bandbreite von Schubert bis David Bowie reicht, gelingt es Teresa Villaverde, Stimmungen zu schaffen, die trotz all der persönlichen Katastrophen auf eine merkwürdige, unerklärliche Weise trösten. Dabei romantisiert sie das Leiden nicht: Marias hartes Leben wird ganz realistisch dargestellt, und doch hat jede Szene auch eine rätselhafte Poesie. Der Film stimmt traurig, ist aber nie deprimierend.

Wilfried Hippen

Im Kino 46, heute 20.30 Uhr, Waller Heerstraße 46