Das Ritual des Gesundbetens

■ betr.: „Lieber Jod als tot“, taz vom 2. 3. 95

Das Öko-Institut rechnet vor, daß bei einem Kernschmelzunfall im AKW Krümmel über eine Million Menschen Hamburg auf Dauer verlassen müssen und daß mit bis etwa 100.000 Menschen gerechnet werden muß, die später tödlich an Krebs erkranken werden. Und der Umweltsenator der Freien und Hansestadt Hamburg, Herr Vahrenholt, wagt öffentlich davon zu sprechen, daß die Atomenergienutzung noch 25 bis 30 Jahre dauern wird.

Aufgrund der Pressemeldungen haben wir uns die Stellungnahme der Umweltbehörde Hamburg besorgt, die Vahrenholts Aussagen zugrunde liegt. Die verschiedenen Teile dieses Papiers unterscheiden sich deutlich durch ihren Tonfall.

In der Presseerklärung und in einer „Vorbemerkung“ wimmelt es von Formulierungen wie „die Wahrscheinlichkeit ... ist kleiner als 1:1.000.000, das heißt pro Anlage ist mit einem derartigen Unfall einmal in einer Million Jahren zu rechnen“. Weil der notwendige Hinweis fehlt, daß die Eintrittswahrscheinlichkeit nichts aussagt über den Eintrittszeitpunkt, sondern daß das Eintreten eines solchen Unfalls jederzeit erwartet werden muß, wird die Aussage zu grobem Unfug. Dazu gehört auch Gerede wie von „dieser nicht völlig risikofreien und nicht bis ins letzte beherrschbaren Technologie“, als ob es sich ums Zufußgehen handelte.

Diese Formeln gehören zum Ritual des Gesundbetens, zu dem die Befürworter der Atomenergienutzung Zuflucht suchen, wenn wissenschaftliche Aussagen nur den Schluß zulassen, daß die Anwendung dieser Technologie schnellstens beendet werden muß.

Die Gutachter sprechen nicht nur von den Millionen Menschen, die von Evakuierung und späterer Umsiedlung betroffen wären, sie geben auch Hinweise darauf, daß Hafen- und Industriegebiete und die Innenstadt verwüstet würden, daß die Stadt Hamburg also schwerste wirtschaftliche Verluste erwarten muß.

Die Bewertung der Umweltbehörde schließt mit dem Satz: „Klar ist dabei jedoch, daß Katastrophenschutzplanung und -maßnahmen als Hilfsmittel zum Umgang mit Risiken nicht den Abbau der Risiken selbst ersetzen können.“ Das heißt: Die notwendige Verbesserung des Katastrophenschutzes ist kein „Schritt in Richtung Ausstieg“.

Wollte der Senator ernst machen mit der Behauptung in der Presseerklärung, daß „stets der neueste Stand der Sicherheitstechnik zur Anwendung kommt“, dann müßte er dafür sorgen, daß zumindest die Zerstörung des Sicherheitsbehälters verhindert wird. Sicher zu gewährleisten ist das nur durch die Stillegung des Atomkraftwerkes. Er müßte also die HEW auffordern, die Restnutzungsdauer für das Atomkraftwerk und damit das wirtschaftliche Risiko für die Stadt Hamburg eng zu begrenzen.

Senator Vahrenholt beachtet nicht die Bewertung der Gutachteraussagen durch die Fachbeamten der Umweltbehörde. Er entzieht sich seiner politischen Verantwortung gegenüber der Stadt und ihren Bewohnern, offenbar im starken Glauben, daß das Ritual des Gesundbetens gegen die schrecklichen Tatsachen hilft.

Wir können diesen Glauben nicht tolerieren. Wir sehen uns vielmehr bestärkt in unserer Forderung: Stillegung aller Atomkraftwerke! Sofort! Anna Masuch, BIU, Hannover