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Verwirrender Kabelbrand im Gehirn

Bis zur Jahrtausendwende wird es 1,4 Millionen Alzheimer-Patienten geben  ■ Von Rainer Kirchhefer

„Ich bin ein wenig tüddelig“, beschreibt die 80jährige ihre Beschwerden. Sie lebt in ihrer eigenen Welt und hat den Anschluß zur Außenwelt längst verloren. Denn alles das, was für ein „normales“ Leben wichtig wäre, hat sie längst vergessen. So kann sie weder die Jahreszeit benennen noch ihr genaues Alter und ist ratlos, weil sie nicht versteht, was um sie herum geschieht.

Die Demenz, wie der unaufhaltsame Abbau der Leistungsfähigkeit des Gehirns genannt wird, ist eine weitverbreitete Krankheit. Bereits heute leben in Deutschland eine Million Demenzkranke. Diese Zahl wird mit steigender Lebenserwartung weiter zunehmen. Im Jahr 2000 sollen es bereits 1,4 Millionen sein.

Der Hirnabbau beginnt meistens recht unscheinbar und langsam: Die Betroffenen klopfen im Hotel an der falschen Zimmertür, beladen ihren Einkaufswagen mit unnötigen Dingen und verlieren bei der Arbeit den Überblick. Viele werten dies zunächst als Zeichen des normalen Alterns – und häufig stimmt diese einfache Diagnose auch. Der Berliner Psychiater Siegfried Kanowski schickt jeden Dritten, der besorgt seine „Gedächtnissprechstunde“ aufsucht, beruhigt nach Hause: Nicht jedes Nachlassen der Hirnfunktion ist Zeichen einer Demenz – und nicht jede Demenz trägt den Namen Alzheimer. Immerhin ein Zehntel der Hirnleistungsstörungen lassen sich kurieren, wenn sie von den ÄrztInnen richtig erkannt werden. Denn ihnen liegen psychiatrische oder körperliche Krankheiten wie Herzschwäche und Unterfunktion der Schilddrüse zugrunde. Die Hälfte der Demenzen ähnelt aber der „eigenartigen Erkrankung der Hirnrinde“, die der Neurologe Alois Alzheimer 1906 den „Südwestdeutschen Irrenärzten“ auf einer Tagung vorstellte. Die nach ihm benannte Krankheit kann mit Sicherheit erst nach dem Tod diagnostiziert werden, denn ihr Hauptmerkmal ist eine Veränderung der Hirnstruktur.

Wenn Menschen die ersten Zeichen der Hirnleistungsstörung bemerken, liegt der Beginn der Alzheimerischen Erkrankung bereits lange zurück. Zwanzig bis dreißig Jahre zuvor veränderten sich die ersten Nervenzellen an zwei typischen Stellen: An den Synapsen, die Informationen zwischen zwei Nervenzellen übertragen, lagert sich das Protein Amyloid ab. Jede Sekunde wird eine Synapse auf diese Art lahmgelegt. Die Ablagerungen wachsen zu Plaques, die jeweils bis zu einer Million dieser Nervenverbindungen unter sich begraben. Gleichzeitig bildet ein anderer Eiweißstoff, das Tau-Protein, an den langen Nervenbahnen sogenannte Neurofibrillen, die wie bei einem Kabelbrand weiterwuchern. Beide Eiweiße gehören zur normalen Ausstattung der Nervenzelle und haben in ihr unverzichtbare Aufgaben. So ist der Vorläufer des Amyloids Teil einer Einweißkette, die für Wachstum und Reparatur sorgt und beim Transport von wichtigen Stoffen ins Zellinnere beteiligt ist. Im Verlauf der Alzheimer-Krankheit wird dieses Vorläuferprotein aus der Kette herausgetrennt und kann mit anderen gleichartigen Proteinen verklebt werden.

Warum sich die Nervenzelle sozusagen selbst zerstört, bleibt den ForscherInnen allerdings ein Rätsel. Eine Hypothese geht davon aus, daß die Nervenzellen nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt werden. Die Zelle „hungert“, erste kleine Schäden entstehen, auf deren Basis dann Plaques und Fibrillen wachsen.

Was aber löst diese Kaskade aus? Normales Altern? Streß? Genetische Veränderungen? Für die letzte Theorie spricht, daß Alzheimer bei Störungen auf den Chromosomen 14, 19 und 21 vorkommt. Während Veränderungen der Chromosomen 14 und 21 einen Krankheitsausbruch bei jungen Menschen bewirken, scheinen Variationen auf der Nummer 19 die Demenz der SeniorInnen zu beschleunigen.

Vorhersagen läßt sich die Demenz nicht. Denn nicht alle, die das veränderte Gen auf Chromosom 19 tragen, erkranken tatsächlich an Alzheimer. Trotzdem werden in den USA bereits die Ergebnisse der Gentests für die Beitragsberechnung der Krankenversicherungen herangezogen. Auch ein Augentest, der vor kurzem für Furore sorgte, ist nicht sicher. Tatsächlich wirken die Augentropfen, mit denen AugenärztInnen die Pupillen erweitern, bei Alzheimer-PatientInnen bereits in stark verdünnter Form. Aber nicht alle, die derart empfindlich reagieren, werden später dement.

MolekularbiologInnen konnten mit ihrer Forschung lediglich klären, was im Krankheitsverlauf geschieht. Sie würden am liebsten in diesen Prozeß eingreifen. Doch das sind Hirngespinste. Selbst die etwas realistischere, aber – noch – nicht realisierte Zukunftsmusik klingt schrill: Nervenwachstumsfaktoren sollen die Zellen animieren, zerstörte Kommmunikationsstränge durch neue zu ersetzen; embryonales Gewebe könnte fehlende Transmitter direkt vor Ort produzieren.

Viel bescheidener fällt die Demenz-Therapie heutzutage aus: Einige Medikamente bremsen offenbar vorübergehend die Zerstörung der Nerven, indem sie Nährstoffe liefern, fehlende Botenstoffe ausgleichen oder schädigende Substanzen wie Kalzium oder freie Sauerstoffradikale fernhalten. Ebenso wichtig wie Pillenschlucken ist ein stetes Gehirnjogging, das die noch erhaltenen Denkfunktionen trainiert.

In jedem Fall geht es bei den Hirnerkrankungen auch um viel Geld. Pharma- und Psychiatrie- Industrie, die den Einsatz der Anti-Demenz-Pille gemeinsam propagieren, sähen es gerne, wenn jeder Demenzkranke täglich diese Nootropika schlucken würde. Sie versprechen der Gesellschaft dafür große Einsparmöglichkeiten: Im nächsten Jahrtausend könnte der Einsatz der Pillen die Ausgaben für die Versorgung Demenzkranker jährlich um 1,4 Milliarden Mark senken.

Heute lebt die Hälfte der Dementen in Heimen. Ebenso viele werden aber von Angehörigen versorgt. Und diese fühlen sich allein gelassen, denn es fehle gerade in der ambulanten Versorgung an psychosozialer Betreuung der Kranken wie auch der stark belasteten Angehörigen.

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