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■ Der Tscheche Ivan Wernisch liest aus den „Ausgewühlten Schriften“ im Literaturhaus

Seine mir liebste Geschichte erzählt von einem gewissen Berdřich, den ein Versucher heißt, ihm auf einen Berg über der Stadt zu folgen. Berdřich wäre zwar lieber im Gasthaus verführt worden und hält den Berg zudem für einen eher unbedeutenden Hügel, tut aber wie ihm geheißen. Dort oben blickt er durch ein Fernglas auf die Stadt, sieht den Wasserturm, den Sonnenuntergang und, nun ja, Andula Patlejchová. „Ja und“, ermuntert ihn der Versucher, doch Berdřich fragt solange zurück, bis der Versucher abwinkt und sich auflöst. „Berdřich staunt. Ich wüßte doch zu gern, sagte er sich, was das zu bedeuten hatte. Aber was schon – wahrscheinlich nichts, gab er sich zur Antwort. Und hatte recht. Steht denn irgendwo geschrieben, daß alles seinen Sinn haben müßte. Vielleicht steht es ja irgendwo, aber das bedeutet noch gar nichts.“ Berdřichs Immunität gegenüber den Versuchungen beruht nicht etwa auf außerordentlicher Prinzipienfestigkeit oder einem unerschütterlichen Glauben. Er nimmt die Außenwelt gar nicht mehr wahr. Das aber tut er gründlich, genüßlich und selbstzufrieden. Phlegma verleiht ihm den Anschein eines Skeptikers.

Solche seltsamen Gestalten spielen die Hauptrollen in den kurzen Erzählungen von Ivan Wernisch. Manche führt der 1942 geborene tschechische Schriftsteller bis vor die Schwelle des besonderen Augenblicks, der den Alltag durchbrechen könnte, um sie dann weitertrotten zu lassen. Andere erlangen nicht einmal das ferne Bewußtsein einer verpaßten Chance. Sie üben, um zur rechten Zeit vorbereitet zu sein, mit dem Leichentuch vor dem Spiegel die passende Haltung ein oder schimpfen wie Johann und Wolfgang über einen verliebten Greis namens Goethe, bis dieser hinzukommt und Kopfnüsse austeilt.

Angesichts solch spielerisch-vertrackten Umgangs mit Sinn und Bedeutung in einer absurden Welt verwundert es nicht, daß Ivan Wernisch nach dem Prager Frühling in der Tschechoslowakei zur Persona non grata wurde. 1970 erschien der letzte von fünf Gedichtbänden, erst 1989 folgte dann „Es beginnt der gestrige Tag“ (Friedenauer Presse, Berlin 1990). Wie auch Ivan Klíma und andere Intellektuelle schlug sich Wernisch mit Gelegenheitsarbeiten durch; zudem arbeitete er an Übersetzungen und Nachdichtungen aus dem Russischen, Lateinischen, Chinesischen und Deutschen. Die Erzählungen und Gedichte in den vor kurzem erschienenen „Ausgewühlten Schriften“ (Friedenauer Presse, Berlin 1994) stammen aus den zwanzig Jahren faktischen Publikationsverbotes. Aus ihnen wird Wernisch heute abend wohl im Literaturhaus lesen, vorgestellt von seinem Übersetzer Peter Urban. Jörg Plath

Heute 20 Uhr, Literaturhaus, Fasanenstraße 23, Charlottenburg. Eintritt frei.

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