■ Nach den Anschlägen gegen Alewiten in Istanbul
: Verdrängte Gewalt

Die Unübersichtlichkeit in der Türkei wird immer größer. Die Zahl der unaufgeklärten Morde vor allem an unbequemen Journalisten und Politikern nahm in den letzten Jahren dramatisch zu. In keinem europäischen Land könnte ein Innenminister oder auch eine Regierung mit so vielen unaufgeklärten Verbrechen auf seiner „Arbeitsliste“ überleben. In der Türkei scheint das möglich. Wundern konnte man sich über die Unempfindlichkeit der Öffentlichkeit gegenüber der offenen, politisch motivierten Gewalt im Land. Die türkische Gesellschaft sträubt sich bis heute, über ihr Verhältnis zur Gewalt grundlegend nachzudenken. In den siebziger Jahren waren die Fronten klar umrissen. Rechtsradikale gegen Linke und umgekehrt stürzten das Land an den Rand des Bürgerkriegs. Spekuliert wurde schon damals über die Verstrickung des Staates in die Gewalttaten.

Als die Militärs 1980 putschten, konnten sie sich als Retter des Landes feiern lassen. Die Gewalt des Staates setzte der Gewalt der Straße vorerst ein Ende. Über die Ursachen der ideologischen Gewalt wurde nur in kleinen Zirkeln am Rande der Gesellschaft diskutiert. Eine Debatte über die von den Militärs angewandte, willkürliche Gewalt, über Folterungen und Mißhandlungen in den Gefängnissen, der Eliminierung politischer Gegner wird bis heute, vor allem von den politischen Machthabern, verdrängt. Diese Politik der Abwiegelung rächt sich jetzt. Nachdem Gewaltakte gegenüber den Alewiten in der Türkei in letzter Zeit zugenommen haben und die Täter fast immer unbekannt blieben, richtet sich der Volkszorn nach den jüngsten Anschlägen direkt gegen die Staatsmacht. Wieder einmal wird der Polizei vorgeworfen, gegen Täter und Tatverdächtige nicht entschieden genug vorzugehen. Die Täter werden unter den radikalen Islamisten vermutet. Ist die türkische Polizei auf dem islamischen Auge blind? Eine islamistische Unterwanderung türkischer Behörden, des Beamtenapparats, der früher einmal als eine wichtige Stütze des laizistischen Staates galt, findet zweifelsohne statt. Feindlich eingestellt gegenüber den Alewiten sind allerdings nicht nur radikal islamistische Gruppen. Auch heute noch geben sich Alewiten in der Türkei ungern zu erkennen. Die Furcht vor Verfolgungen, die in die osmanische Zeit zurückreicht, sitzt zu tief, die Distanz zur sunnitischen Mehrheit im Land ist groß geblieben. In den letzten Jahren allerdings ist ein neues Selbstbewußtsein unter den Alewiten entstanden. Alewitische Gebetshäuser, „cemevleri“, werden eröffnet. Die alewitische Tradition des Landes rückt in den Mittelpunkt sozialer und kultureller Debatten. Das ist sicherlich ein Dorn im Auge all jener Kräfte, die den Status quo in der Türkei bedroht sehen. An der Spitze dieser Kräfte steht die heutige türkische Regierung, die die Entfaltung der unterschiedlichen religiösen und ethnischen Identitäten in der Türkei bislang mit aller Gewalt unterdrückt. Diese Unterdrückung ziviler Formen des Ausdrucks führt unmittelbar zur Radikalisierung und zur Anwendung von Gewalt. Wird das, was mit den Kurden in der Türkei passierte, jetzt auch mit der alewitischen Minderheit passieren? Wird die Unterdrückung von kultureller Identität in den bewaffneten Kampf münden? Eine neue Frontlinie im Inneren kann das kriegsgeschüttelte Land freilich nicht vertragen. Zafer Șenocak