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Aufruhr vor dem "Cafe des Ostens"

■ Die Attentäter griffen sich ein Taxi, schlitzten dem Fahrer die Kehle auf und schossen auf Cafs der Alawiten in Istanbul. Die Polizei verbreitet eine absurde Theorie über die Morde und wehrt sich mit...

Die Attentäter griffen sich ein Taxi, schlitzten dem Fahrer die Kehle auf und schossen auf Cafés der Alawiten in Istanbul. Die Polizei verbreitet eine absurde Theorie über die Morde und wehrt sich mit Gewehren gegen Steine Aus Istanbul Ömer Erzeren

Aufruhr vor dem „Café des Ostens“

Überall brennt es. Geschäfte stehen in Flammen. Immer wieder sind Explosionen zu hören. Die Benzintanks von angesteckten Autos und Propangasflaschen fliegen in die Luft. Das Viertel Gazi im Istanbuler Stadtteil Kücükköy auf der europäischen Seite der Stadt gleicht einer Hölle. Von irgendwo wird geschossen. Man hört die Einschläge in den Mauern. Tausende Jugendliche streifen durch die Gassen des Viertels. „Tod dem Faschismus!“ wird skandiert. Einzelne haben sich mit Dachlatten und Molotowcocktails bewaffnet. „Polizisten sind Mörder“, ruft ein junges Mädchen, das einen Stein in ihren Händen hält.

Vor dem „Café des Ostens“ herrscht relative Ruhe. Hunderte von Menschen verharren vor dem Café, das Ausgangspunkt für die bürgerkriegsähnlichen Straßenkämpfe war. Im Innern wird eine Leiche aufgebahrt.

Am Sonntag abend, kurz nach neun Uhr, hatten Attentäter aus einem gestohlenen Taxi auf das Café gefeuert. Der siebzigjährige Halil Kaya wurde getroffen und starb unmittelbar nach den Schüssen. Die Attentäter setzten ihre Fahrt fort und feuerten auf weitere Cafés in dem Viertel.

Unweit vom Ort des Geschehens wurde dann das Taxi gefunden. Im Kofferraum lag der gefesselte Taxifahrer – die Attentäter hatten ihm die Kehle durchgeschnitten. Dutzende Verletzte aus den Kaffeehäusern des Viertels wurden von Nachbarn in Krankenhäuser gebracht.

Die überwiegende Mehrheit der rund 30.000 Einwohner des Gazi- Viertels in Kücükköy gehören der alawitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die religiöse Praxis der Alawiten weist in vieler Hinsicht Unterschiede zu sunnitischen Moslems, die in der Türkei die Mehrheit stellen, auf. Im Gegensatz zu den orthodoxen Sunniten gehen die Alawiten nicht in die Moschee, sondern versammeln sich in Gemeindehäusern (siehe Artikel unten). Das „Café des Ostens“ war an ein solches Cemevi angeschlossen. Die Anschläge der Nacht galten ausschließlich Kaffeehäusern, die von Alawiten frequentiert werden.

Die Einwohner des Viertels reagierten sofort. Ob alt oder jung – die Alawiten sind fest überzeugt, daß die Polizei mit den Tätern kollaboriert. Ein Lebensmittelhändler meint, daß „die Zeit zum Handeln“ gekommen ist. „An normalen Tagen kreuzen alle zehn Minuten Polizeiautos durch die Straßen. Sie schleppen unsere Jugendlichen auf die Wache und verprügeln sie. Heute haben wir kein einziges Polizeiauto gesehen. Sie stecken doch unter einer Decke mit den Faschisten.“ Aus ganz Istanbul sind die Alawiten ins Gazi-Quartier geströmt, um ihren Protest kundzutun.

Vor dem „Café des Ostens“ versucht der sozialdemokratische alawitische Politiker Fermani Altun, die Menge zu beruhigen. „Laßt euch nicht auf Provokationen ein“, ruft er ins Megaphon, „kehrt in eure Häuser zurück. Wir wollen nicht blutige Kämpfe zwischen Sunniten und Alawiten. Wir wollen nicht, daß unsere Jugendlichen mit der Polizei in Konflikt kommen.“ Aber die Leute wollen sich nicht beruhigen lassen, sie entreißen Altun das Megaphon. „Tod dem Faschismus!“ skandiert die Menge. „Der Staat steht doch hinter den Mördern. Erzähl' doch keinen Quatsch“, ruft ein Mann. Eine alte Frau pöbelt Altun an. „Ihr Hurensöhne. Ihr erzählt doch immer dasselbe. Während ihr Reden schwingt, werden wir Alawiten immer wieder unterdrückt.“

Die Alawiten aus Gazi sind überzeugt, daß Faschisten aus dem Umfeld der Nationalistischen Aktionspartei MHP oder extremistische moslemische Gruppen hinter dem Anschlag stecken. Bekenneranrufe der islamistischen Terrorgruppe „Front der Kämpfer des großen islamischen Ostens“ und der rechtsextremen „Türkische Rachebrigade“, die noch in der Nacht bei türkischen Zeitungen eingingen, bestätigen ihre Vermutung. Die Polizei hat laut der türkischen Tageszeitung Hürriyet eine ganz andere Meinung: Bei den Anschlägen auf die Kaffeehäuser handele es sich eigentlich um interne Auseinandersetzungen innerhalb der linksextremen Terrororganisation Dev-Sol (Revolutionäre Linke). Eine ziemlich abwegig erscheinende Theorie – bei einer internen Streitigkeit wäre gezielt auf Personen geschossen worden und nicht einfach auf fünf alawitische Cafés.

Zwei Schülerinnen stehen vor einem brennenden Trecker. „Zuerst ermorden sie uns. Statt die Täter zu fassen, prügelt die Polizei uns Alawiten“, sagt eines der Mädchen. Sie erinnert an die Gedenkfeier zu Ehren des alawitischen Dichters Pir Sultan Abdal vor zwei Jahren in Sivas. Drei Dutzend Intellektuelle verbrannten in einem Hotel, eine johlende fundamentalistische Menge versperrte ihnen die Fluchtwege. „Wir haben Sivas nicht vergessen. Auch damals hat die Polizei zugeschaut.“

Mitten in Istanbul hat sich im Gazi-Viertel ein Bürgerkrieg entladen. Jugendliche Gangs stecken Geschäfte von Sunniten in Brand. Religiöse und ethnische Zugehörigkeit nährt das Feuer. Viele der Alawiten in Gazi sind Kurden aus der Provinz Tunceli. Unter den vermummten Jugendlichen sind Politpropagandisten jeder Couleur. Sympathisanten der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) ebenso wie Militante der Organisation „Revolutionären Linken“. Doch der alawitische Volkszorn in dieser Nacht ist nicht politisch gelenkt. Jahrelange Diskriminierung und der alltägliche Polizeiterror im Viertel sind es, die das Faß zum Überlaufen brachten.

Mitten in Istanbul ist der Bürgerkrieg entfacht worden. Horden von zivilen Polizisten – die Maschinenpistolen im Anschlag – drücken sich an die Wände. Eine Frau ruft ihnen etwas zu. „Ihr Köter aus Tunceli. Ich schieße gleich auf dich“, schreit der Polizist zurück. Die Nerven der Polzisten sind gereizt. Mehrere ihrer Kollegen sind ebenso wie Dutzende Zivilisten während der Straßenkämpfe verletzt worden. Einige durch Kugeln. „Seid ihr lebensmüde? Dort oben wird geschossen!“ ruft ein Polizist uns aus einem Mannschaftswagen zu. Er fuchtelt mit seiner Pistole. Angst auch bei der Polzei. Tausende sind im Einsatz. In die inneren Bezirke des Viertels trauen sie sich nicht hinein. Gegen Mitternacht treffen die angeforderten Truppenverbände der Armee ein. Das Gazi-Viertel wird großräumig eingekesselt.

Ein stundenlanger Fußmarsch ist nötig, um dem brennenden Inferno mitten in Istanbul zu entkommen. Dann finden wir ein Taxi.

Der Taxifahrer wohnt in Gazi. Er traut sich nicht in seine Wohnung, wo seine Frau und Kinder sind. Er gehört zur sunnitischen Minderheit im Viertel. „Die Alawiten mögen uns nicht. Selbst während des Ramadan waren alle Bierhallen in Gazi geöffnet. Sie haben keine Achtung vor unserer Religion. Sie gehen nicht in die Moschee.“

Beiläufig nennt der gläubige Sunnit die Ursachen des aufgestauten Hasses: „Vor drei Monaten haben die Alawiten schon einmal vor der Polizeiwache protestiert. Die Polzei hatte damals einen alawitischen Jugendlichen geschnappt und ihn mit Elektroschocks zu Tode gefoltert. Die Zeitungen haben nicht einmal darüber berichtet.“ Der Taxifahrer erzählt seine Geschichte wie eine selbstverständliche kleine Alltagsepisode.

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