Wir produzieren Ideologie

■ Die PDS Kreuzberg wird vom Landesvorstand als Westberliner Vorzeigebezirk gehegt und gehätschelt Der Regierungsbezirk Tiergarten soll im kommenden Herbst zum Wahlkampfschwerpunkt werden

Am Kopfende, wo jede ordentliche politische Vereinigung in Deutschland ihre geistigen Väter würdigt, hängt ein künstlerischer Versuch. Das Porträt soll Gustav Landauer (1870–1919) ähneln. Der Literat, Anarchist und Mitbegründer der bayrischen Räterepublik hängt im Büro der PDS Kreuzberg „für den ersten sozialistischen Versuch auf deutschem Boden“, erklärt ein junger Genosse, der offenbar auch der Künstler ist. „Die DDR war bereits der zweite.“

In einem dritten Hinterhof in der Dieffenbachstraße geht es zunächst nicht um den dritten Versuch, obwohl in der trauten Runde, die sich hier donnerstags trifft, alle davon träumen: Die Genossin aus Köln, die nach Berlin entsandt worden war, um das linke Ost- West-Bündnis zwischen der Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) und der Vereinigten Linken (VL) zu schmieden; der Autonome, der schon als Heinz Schenk die Kreuzberger Szene organisieren wollte; der Ex-SEWler, der stolz darauf ist, seit über zwanzig Jahren einer sozialistischen Organisation anzugehören, oder der enttäuschte Sozialdemokrat, der es seinem ehemaligen Juso-Vorstandsmitstreiter und jetzigen Kreuzberger SPD- Bürgermeister noch einmal so richtig zeigen will. Mehr als siebzig Mitglieder hat die PDS Kreuzberg, seit Ende 1993 hat sich die Zahl vervierfacht.

In Kreuzberg wollen die demokratischen Sozialisten bis zum Herbst einen neuen Anlauf starten, um im ehemaligen Feindesland Fuß zu fassen. 7,5 Prozent der Kreuzberger machten bei den Bundestagswahlen im vergangenen Jahr ihr Kreuz bei der PDS. Gelänge der PDS bei den Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung, die am 22. Oktober zusammen mit den Abgeordnetenhaus- Wahlen stattfinden, die Wiederholung dieses Ergebnisses, könnten drei oder vier PDS-Kandidaten in die BVV einziehen.

Vom Landesvorstand werden die Kreuzberger Genossen gepflegt und gehätschelt. 80.000 Mark standen der PDS Kreuzberg für den Bundestagswahlkampf zur Verfügung. „Mehr“, so der Sprecher der PDS Kreuzberg, Michael Prütz, „hätten wir gar nicht ausgeben können.“ Um so unverständlicher erscheint vielen Parteifreunden der Rücktritt von Dirk Schneider aus dem Landesvorstand. Er hatte der PDS vorgeworfen, die Kreuzberger sollten per „Finanzkeule“ diszipliniert werden. Dabei habe, so wird in seiner Basisorganisation getuschelt, der auf Basisdemokratie gedrillte „Choleriker“ Schneider auch nach fünf Jahren noch nicht verstanden, daß die entscheidenden Dinge in der PDS anders geregelt werden, nämlich außerhalb der Tages- und Geschäftsordnung.

Für den Wahlkampf im Herbst will die Berliner PDS 985.000 Mark aufwenden. Wieviel davon für einen eigenständigen Wahlkampf in den Westteil fließen, ist noch offen. 70.000 sind es mindestens. 40.000 wurden den Westberliner Landesverbänden bereits zugesichert. Mindestens 30.000 Mark sollen zusätzlich zwei Bezirke erhalten, in denen man durch vermehrte Anstrengungen die Fünfprozenthürde nehmen will.

Neben Kreuzberg ist Tiergarten als zweiter Schwerpunktbezirk im Gespräch. Hier will die PDS die Folgen der Hauptstadtplanungen zum Wahlkampfthema machen. Das von ehemaligen Mitgliedern der kommunistischen Kader- Grüppchen dominierte Schöneberg ist bei der Berliner PDS- Spitze durch langatmige Organisationsdebatten in Ungnade gefallen. Auch der Norden der ehemaligen Frontstadt ist unbeliebt, weil fest in der Hand des ehemaligen SED-Ablegers West.

Grundsätzliches steht bei der PDS Kreuzberg im Mittelpunkt. „Wir wollen“, so Michael Prütz, „die politische Debatte wieder in den Stadtteil tragen.“ Parteivize Wolfgang Gehrke war schon zu Gast, um sich für seine 10 Thesen zu rechtfertigen, und Sahra Wagenknecht als Berichterstatterin vom Parteitag. Vor den Wahlen im Herbst stehen noch Rosario Ibarra, die Präsidentin der „Convergencia Democrática“ aus Mexiko, die Journalistin Ingrid Strobl und der britische Sozialist und linke Labour-Abgeordnete Tony Benn auf der Wunschgästeliste.

Der Wahlerfolg im letzten Herbst, so weiß auch der Versicherungskaufmann, der es in den achtziger Jahren bis in den Geschäftsführenden Ausschuß der Alternativen Liste geschafft hatte, wurde „im mentalen Bereich“ erzielt, jetzt müsse die PDS Kreuzberg ihre „politische Nützlichkeit beweisen“ und deutlich machen, wo sie sich von der AL unterscheide. Eine AG Kommunalpolitik arbeitet derzeit an einem Kommunalprogramm, doch Revolutionäres ist da kaum zu erwarten. Das Tempodrom soll zum Anhalter Bahnhof, darin erschöpfen sich bereits die grundsätzlichen Unterschiede zur grünen Konkurrenz, aber selbst das könnte sich in Kürze geklärt haben.

In der Verkehrspolitik will sich die Kreuzberger PDS profilieren, doch die erste richtige Aktion – „sonst produzieren wir nämlich nur Ideologie“ (Prütz) – muß erst einmal verschoben werden. Am „autofreien Sonntag“ sollte mit einem kleinen Umzug die PDS-Forderung nach einer Straßenbahnlinie von der Oberbaumbrücke über die Glogauer Brücke zum Hermannplatz bekräftigt, die Streckenführung farblich markiert werden.

Doch auf einem Vorbereitungstreffen in der letzten Woche glänzten die eingeladenen Kreuzberger Verkehrs- und Umweltinitiativen durch Abwesenheit. Jetzt wird die Aktion auf unbestimmte Zeit verschoben. Und während zwei der Gastgeber noch darüber grübelten, warum niemand das Angebot der PDS zu außerparlamentarischen Aktivitäten angenommen hat, beugten sich die anderen beiden Genossen über den Stadtplan, rätselten über die richtige Streckenführung und fragten sich besorgt, ob man denn die Straßenbahn so einfach durch den Görlitzer Park führen könne?

„Die AL ist heute eine langweilige Partei, das ist unsere Chance“, frohlockt Michael Prütz. Wie gut, daß der Andrang in der Dieffenbachstraße nicht größer ist. Christoph Seils