Nachts Ausgangssperre in Istanbul

■ Einen Tag nach den Straßenschlachten zwischen Polizei und Alawiten hat die türkische Armee die Kontrolle übernommen

Istanbul (taz) – Militärverbände kontrollieren die leergefegten Straßen des Quartiers Gazi in Kücükköy im europäischen Teil der Millionenstadt Istanbul. Weiterhin ist die polizeiliche Ausgangssperre in Kraft, die vorgestern nachmittag ausgerufen wurde, nachdem es zu erbitterten Straßenkämpfen zwischen den mehrheitlich alavitischen Einwohnern und der Polizei gekommen war.

Der Aufstand war ausgebrochen, nachdem unbekannte Täter mit automatischen Gewehren in fünf alavitische Cafés gefeuert hatten. Bilanz der nächtlichen Ereignisse: 17 Tote und über Hundert Verletzte, die meisten durch scharfe Munition. Als die Polizei mit Molotow-Cocktails und Steinen beworfen wurde, schossen einzelne Polizisten scharf zurück. Rund hundert Geschäfte sind zerstört und geplündert worden, über ein Dutzend Fahrzeuge gingen in Flammen auf.

„Wir werden nicht in diese verräterische Falle tappen“, schlagzeilen gleichlautend die größten Tageszeitungen Sabah (Der Morgen) und Hürriyet (Die Freiheit). Bei den türkischen Politikern und den Kolumnisten geht die Furcht vor einer Spaltung der Gesellschaft entlang der religiösen Zugehörigkeit um. Nach Mutmaßungen bilden die moslemischen Alawiten, die sich in ihrer religiösen Praxis von den orthodoxen Sunniten unterscheiden – sie kennen kein Alkoholverbot, gehen nicht in die Moschee und fasten nicht während des Ramadan – ein Drittel der Bevölkerung in der Türkei.

Türkische Politiker reagierten mit Bekenntnissen zum laizistischen Staat und zur Republik, zur Glaubensfreiheit und Toleranz auf die Ereignisse, um den Haß und die Wut der Alawiten abzuschwächen. „Ich verurteile die Angriffe auf unsere alawitischen Bürger auf das heftigste“, sagte Ministerpräsidentin Tansu Çiller nach einer eilends einberufenen Sondersitzung des Kabinetts. Nach den Anschlägen auf die alawitischen Teehäuser wird „Verständnis“ für den Zorn der Bürger aufgebracht. Die gewalttätigen Ausschreitungen seien dagegen das Werk von „Provokateuren“.

Führer der alawitischen Gemeinde in der Türkei halten dagegen, die soziale Explosion sei eine Folge der Parteilichkeit von Staat und Polizei. Im Polizeiapparat befänden sich „Faschisten“ und „sunnitisch-religiöse Extremisten“.

Während Wutausbrüche der Demonstranten gegen die Polizei gang und gäbe waren, hielten sich die Demonstranten gegenüber den Militärverbänden zurück. Das Mißtrauen gegen die Polizei sitzt wesentlich tiefer. Ein türkischer Privatsender berichtet von einer Szene der Straßenkämpfe: Ein Polizist in Zivil schleift brutal eine junge Frau an den Haaren. In der anderen Hand hält er eine Maschinenpistole. Ein Offizier eilt herbei, rettet die Frau und führt sie behutsam heraus.

Auch in Ankara kam es gestern zu Ausschreitungen: Etwa 2.000 Menschen waren einem Aufruf der „Demokratischen Plattform“, einem Zusammenschluß verschiedener Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften, zur Demonstration gegen die Istanbuler Ereignisse gefolgt. Als die Polizei mit gepanzerten Fahrzeugen in die Menge fuhr, hätten die Demonstrierenden sich mit Knüppeln und Steinwürfen gewehrt, sagen Augenzeugen. Ömer Erzeren