„Putzfrauen gibt es doch genug“

Abschied: Charlotte von Mahlsdorf im Kulturverein „Brücke“ in Schöneweide  ■ Von Thorsten Schmitz

Selbst auf dem glänzend furnierten Barhocker aus den siebziger Jahren läßt sich Charlotte von Mahlsdorf in alttestamentarischer Akkuratesse nieder. Den Rücken exakt im 90-Grad-Winkel gestreckt, die Knie züchtig zusammengeklemmt, nippt der kulturgeschichtlich beschlagene DDR- Transvestit mit abstehendem kleinen Finger wahlweise am Apfelsaft oder am Kakao. Die Strickjacke streift sie dann doch wieder über, ihre Hände sind ja schon ganz blau gefroren. „Es könnte ein bißchen wärmer sein“, sagt sie. Ordnet das schüttere Haar und tupft die Nase sacht mit einem Taschentuch, das sie unter dem mittleren Blusenknopf hervorholt.

Um Mißverständnisse erst gar nicht aufkommen zu lassen, unterweist von Mahlsdorf, 67, die intime Runde in das Abc der Sexualkunde: „Ich bin kein Transsexueller, mein Geschlechtsteil hat mich nie geniert.“ Nur mehr Brust könnte schon sein, sie legt den Kopf etwas schief und betrachtet ihr tiefgefrorenes Händeknäuel. Aber wenn sie sich so manche Frau anschaue, die auch nicht mehr drauf habe, dann „tröstet“ sie das.

Der Kulturverein „Brücke“ begehrt seit 1989, Wunder der Wahrscheinlichkeit, inmitten der Ostberliner Industriewüste Schöneweide gegen eine atemberaubende Tristesse auf. Im Partykeller des Spezial-Cafés goutierten schon Birgit Breuel, Günter Grass und Gregor Gysi zu Dumpingpreisen die wohlsortierte Bar. Die Arbeitslosigkeit in Schöneweide ist hoch, und der Kneipier Claus Bubolz mit der scratchenden Stimme will jedem die Chance geben, für den Augenblick eines preiswert erkauften Rausches die böse Westwelt zu vergessen.

Bubolz liebt Lottchen, und so ließ er nicht locker, bis die Mahlsdorfer Faktenhuberin schließlich ihr Kommen zusagte. Als sie im knöcheltiefen Folklorerock die Treppe hinabsteigt, will der Applaus kein Ende nehmen. Er zaubert ein Lächeln auf ihre zart geröteten Wangen. Man könnte meinen, sie schwebe zum Barhocker. Es ist ihre vorletzte Lesung in dieser Stadt, im Sommer verläßt sie ihr Gründerzeitmuseum und nimmt die Fähre ins schwedische Exil. Sechs Jahrzehnte im geschlechtlichen und gesellschaftlichen Abseits – in Örebrolän hofft sie auf mehr Toleranz.

Viermal noch wird sie sich vor der Kamera zum hundertsten Mal nach ihren Weggehgründen ausfragen lassen (Talk im Turm, Bei Bio, NDR-Talkshow, Nachtshow), dann ist auch damit Schluß. Bevor Charlotte von Mahlsdorf, in gewohnt leierndem Museums-Singsang, ihre enzyklopädische Vollbildung unter Beweis stellt und fein Passagen aus „Ich bin meine eigene Frau“ streut, entführt die Cello-Familie Taschner-Tietze sie akustisch. Lottchens Traum vom Leben: Dienstmädchen im späten 19. Jahrhundert. Müde ist sie und den ganzen Tag schon auf den Beinen, nur eine Stulle mal zwischendurch, und so schließt sie die Augen und beamt sich in die Zeit der Grammophone. Die rumpelnde Straßenbahn und das zwischenzeitlich aktivierte Gebläse halten sie davon ab, ganz abzutauchen.

Wie auf Knopfdruck schildert die alleinstehende Museumsleiterin ihre spannende Schnitzeljagd durch historische Fernen, geschickt montiert sie ihre abenteuerlichen Aperçus mit der stets gleichen und doch reizvollen Formel: „Also, ich muß mal sagen ...“ Das suggeriert Spontaneität, tatsächlich kommt jedes Wort seit Jahren schon in der gleichen Reihenfolge. Die Frau im Mann funktioniert wie ihre heißgeliebten Standuhrenwerke.

Froh stimmt sie ihr zweites Leben in Schweden, denn der Besucheransturm sonntags auf ihr Museum ist nicht mehr auszuhalten. Die erste Führung beginnt um elf, und schon um neun stehen 500 Menschen in der Schlange. Dabei kann sie höchstens 130 Menschen durch Herrenzimmer, Salon und Küche schleusen. „Wir sind ein Gutshaus und nicht das Schloß Sanssouci.“ Der leichte Tadel nutzt ja nichts, alle wollen das leibhaftige Gesamtkunstwerk noch mal begaffen. Am 31. März schließt von Mahlsdorf unwiderbringlich die Museumspforte. Sogar aus Westdeutschland reisen die Besucher an, darunter auch Aasgeier: Antiquitätenhändler auf Schnäppchenjagd.

Angeblich bemüht sich der Senat, das Museum zu retten. Joachim Sartorius vom Kultursenat berichtete an diesem Abend, Gutachter des Märkischen und des Berliner Museums taxierten derzeit den Wert von Lottchens Lebenswerk. Er vergaß nicht, Berlins „angespannte“ Haushaltslage zu erwähnen. Ob der Stadt das Gründerzeitmuseum was wert ist, entscheidet sich erst in einigen Monaten, aber was ist das Gründerzeitmuseum schon ohne seine Hausherrin?

„Liebe Charlotte, du kannst uns doch nicht einfach alleine lassen!“ meldete sich ein Freund zu Wort. Die beiden haben sich in seinem FKK-Club kennengelernt. Der Dame schmeichelt solch ein Appell natürlich, sie aktiviert ihr bezauberndstes Lächeln, es nimmt das ganze Gesicht ein. „In drei Jahren werde ich 70, und irgendwann muß ich auch mal kürzer treten.“ Sie könne sich vorstellen, daß jüngere Menschen ihr Museum leiteten, wie sie es getan hat.

Sie hält sich, in dienstmädchenhafter Bescheidenheit, für austauschbar: „Putzfrauen gibt es doch ohnehin genug.“