Wenn der Postmann nicht mehr klingelt

■ Deutsche Post AG arbeitet mit Zuckerbrot und Peitsche: „Es gibt kein Postchaos“

Jetzt hat die Stadt ihr Postchaos und dazu ihren Skandalbezirk: Wedding. Seit Wochen klagen Briefträger über verschärfte Arbeitsbedingungen, Briefkästen bleiben leer, taz-Abonnenten warten vergeblich auf die aktuelle Zeitung, und die Boulevardpresse wittert gar den „Postinfarkt“ (Bingo- BZ). Die Deutsche Post AG hingegen wiegelt ab.

„Wir befinden uns eben in der Phase der Umstellung“, sagte der Präsident der Post AG, Dieter Wöhlert, gestern auf einer Pressekonferenz des Unternehmens. Die Vergrößerung der Westberliner Zustellbezirke und den damit einhergehenden Stellenabbau – im Wedding verlor jeder vierte Briefträger seinen Arbeitsplatz – rechtfertigte der Präsident mit dem bevorstehenden Konkurrenzkampf. Laut Wöhlert müsse die ansonsten „extrem soziale“ Post AG Kosten senken, um im zukünftigen Wettbewerb mit privaten Postdiensten bestehen zu können. Für 1997/98 sei der Gang der Post AG an die Börse geplant, und deshalb sei jetzt das oberste Ziel, die Kunden zufriedenzustellen.

Hintergrund der Probleme in Bezirken wie Wedding und Lichtenrade, aber auch in Zehlendorf, Tempelhof und Neukölln, ist die Umstrukturierung der Zustellbezirke im Januar. Bis Ende März soll die Neueinteilung abgeschlossen sein. Damit werden von den 1.887 Zustellbezirken in Westberlin 238 eingespart; in den meisten Bezirken sind dann die Briefträger nicht mehr mit Karren, sondern mit Fahrrädern unterwegs. 315 Briefträger werden damit überflüssig und sollen künftig andere Aufgaben übernehmen. Im Wedding sind die Zusteller dem Mehraufwand schon jetzt offenbar nicht mehr gewachsen. Wie Post-AG- Chef Wöhlert bestätigte, waren gestern 70 Zusteller krank gemeldet – etwa die Hälfte. Wöhlert begründete die Krankmeldungen nicht etwa mit den gestiegenen Belastungen, sondern mit einem „subjektiv empfundenen Unwohlsein in der neuen Arbeitssituation“, auf gut deutsch mit Krankfeiern.

Zudem wies Wöhlert darauf hin, daß in Berlin auch in anderen Unternehmensbereichen die Zahl der Krankmeldungen über dem Bundesdurchschnitt liege – ein berlinspezifisches Problem also, dem man einmal auf den Grund gehen müßte. Für Zusteller, die bis Ostern zu einer Normalisierung der Verhältnisse beitragen würden, versprach Wöhlert eine Belohnung von 1.000 Mark.

Michael Klein, Sprecher des Postverbandes, hält dagegen: „Wer Qualität bieten will, muß auch auf die Quantität achten. In Berlin wären mindestens 300 neue Kräfte nötig, um die Situation zu normalisieren.“ Klein kann dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“ wenig abgewinnen. Es helfe nichts, das Personal gegeneinander auszuspielen und die Mehrarbeit zu vergüten.

Wie auch ein Briefträger aus dem Wedding berichtete, sei das Problem der Zusteller längst nicht mehr ein finanzielles. „Wer im Wedding als Zusteller arbeitet, dem bleiben nur noch drei Dinge: Post machen, essen, schlafen.“ Es gebe Kollegen, die nach der Neueinteilung Herz- und Kreislaufzusammenbrüche erlitten hätten, weil sie die Postflut nicht mehr bewältigen könnten. Im Zustellamt, das um halb vier Uhr morgens geöffnet ist, würden sich lange vor dem regulären Arbeitsbeginn Kollegen einfinden, um „schon einmal anzufangen“ – unbezahlt, versteht sich. Wolfgang Farkas