■ Das Bundesverfassungsgericht zu Sitzblockaden: Adieu, ziviler Ungehorsam?
Die Strafjustiz ist zwar nicht darauf angewiesen, daß in jedem Fall das Urteil des Gerichts und das der Öffentlichkeit übereinstimmen. Aber unangenehm ist es schon, wenn richterliche Spruchtätigkeit und „Parallelwertung der Laiensphäre“ auseinanderdriften.
Als in den 70er und 80er Jahren die Zufahrten zu Kasernen und AKWs nicht von vermummten Bösewichtern, sondern von würdigen Gelehrten und Dichtern, von Großmüttern und Müttern samt ihrer Kinder- und Enkelschar umlagert wurden, war es mit den guten alten Zeiten einheitlicher Rechtsauffassung und -anwendung vorbei.
Der Nötigungsparagraph, einst festes Bollwerk gegenüber Streikketten wie Verkehrsblockaden, geriet ins Wanken. Wo beginnt, wo endet die Gewalt des Nötigers bei Straßenblockaden? Geht's nur um das harmlose „Sitzen und Sitzenbleiben“ oder nicht vielmehr um ein „aktives, absichtsvolles Sich-Hinsetzen“, das dem Genötigten nur die Wahl läßt, der Gewalt zu weichen oder „unter erheblicher körperlicher Kraftanstrengung“ den Blockierer wegzutragen? Und wann, um Gottes willen, ist die Nötigung als verwerflich, mithin als rechtswidrig anzusehen? Das Verfassungsgericht zeigte sich gespalten, Differenzen zum Bundesgerichtshof traten hervor, Amtsrichter rangen die Hände. Das lokale Landrecht blühte, bis diverse Oberlandesgerichte dafür sorgten, daß einheitlich verurteilt wurde – oftmals unter Augenzwinkern.
Das jetzige Fünf-zu-drei-Urteil des Verfassungsgerichts hat, mit rund zehnjähriger Verspätung, den Zustand beendet, nach dem die Brücke von Rheinhausen oder der Brenner-Paß straflos dem Verkehr entzogen wurde, die Pershing-II-Blockierer hingegen mit Strafbefehlen eingedeckt wurden. Indem die Verfassungsrichter friedliche Sitzblockaden als nicht gewaltsam definierten, brachen sie zwar mit einer geheiligten, auf das Reichsgericht zurückgehenden Tradition, engten aber dafür den Gewaltbegriff so ein, daß er generell und eindeutig handhabbar wird. Mit anderen Worten: Sie interpretierten den Nötigungsparagraphen verfassungskonform.
Gelackmeiert sind die künftigen Blockierer, die Liebhaber des zivilen Ungehorsams, die bei Straßenblockaden bei bestem Willen nur die Vorschriften des Verkehrs- und des Versammlungsrechts mißachten dürfen. Kalkulierte Regelverletzungen, dazu bestimmt, die Öffentlichkeit aufzurühren, feurige Plädoyers bei den anschließenden Gerichtsverfahren, all dies droht in aschgraue Bedeutungslosigkeit zu versinken. Aber gemach! Ein Blick (nicht nur) ins Strafgesetzbuch weist der Politik mittels symbolischer Formen neue, reiche Anwendungsgebiete! Christian Semler
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