Wieder vier Todesopfer in Istanbul

■ Nach den Polizeischüssen auf alawitische Demonstranten heftige Kritik an der Regierung / Tausende tragen die Opfer zu Grabe / Neue Auseinandersetzungen

Istanbul (taz) – Trotz der Ausgangssperre ist keine Ruhe im alawitischen Viertel Gazi im europäischen Teil Istanbuls eingekehrt, wo am Montag ein Aufstand ausbrach, nachdem tags zuvor Anschläge auf alawitische Cafés verübt worden waren. Vor dem religiösen Zentrum der Alawiten, dem Cemevi, hatten sich gestern erneut Tausende Demonstranten versammelt. Sie forderten die Freigabe der Leichname und den Rückzug der Sicherheitskräfte ebenso wie die Freilassung inhaftierter Alawiten. Mehrere hundert Alawiten seien noch vermißt, sagten Führer der Demonstranten.

Unter der Anteilnahme von 5.000 Demonstranten wurden Opfer der Polizeischüsse vom Montag schließlich auf dem Friedhof des Viertels beigesetzt. Die Trauernden beschimpften die Polizei als Mörder und gaben der Regierung die Schuld am Blutvergießen.

Schätzungen zufolge sind in den vergangenen Tagen Dutzende Menschen getötet und Hunderte verletzt worden – die überwältigende Zahl durch Schüsse der Polizei auf Demonstranten. Dagegen spricht der türkische Innenminister Nahit Mentese von fünfzehn Toten. Im Elendsviertel Ümraniye im asiatischen Teil der Stadt – Dutzende Kilometer von Gazi entfernt – kam es erneut zu Schüssen der Polizei. Vier Demonstranten kamen ums Leben, fünfundzwanzig wurden verletzt.

Aus Gazi war die Polizei schließlich gestern ganz zurückgezogen worden. Der diensthabende Armeegeneral und Vertreter der Demonstranten hatten sich darauf geeinigt, wie Trauerzug und Beerdigungszeremonie durchgeführt werden. Der Kommandeur gab sich betont verbindlich und sprach von „unserem Volk“ und „unseren Bürgern“, die „guten Willens“ seien und – entsprechend ihrer Traditionen – die Toten beisetzen würden.

Nach den Todesschüssen der Polizei auf die alawitischen Demonstranten stehen der türkische Innenminister Nahit Mentese ebenso wie der Gouverneur von Istanbul, Hayri Kozakcioglu, und der Polizeichef der Stadt, Necdet Menzir, im Zentrum der Kritik. Türkische Privatsender zeigten Aufnahmen der schießenden Polizisten. Verletzte, die in zahlreichen Krankenhäusern behandelt werden, klagten in den Medien über das brutale Vorgehen der Polizei. Von der Spitze der mitregierenden Sozialdemokraten CHP kamen scharfe Worte gegen die Ordnungshüter, und ein Abgeordneter der „Partei des rechten Weges“ DYP von Ministerpräsidentin Tansu Çiller kritisierte erregt den Innenminister: „Wie kann Polizei das Feuer auf Bürger eröffnen?“ fragte er auf einer Fraktionssitzung.

Der alawitische Massenprotest und die Todesschüsse haben die türkische Ministerpräsidentin in Bedrängnis gebracht. Die Polizei erhielt strikte Anweisung, sich zurückzuhalten. Der Rückzug der Polizei aus dem Viertel Gazi und die Entsendung von Armee- Einheiten gilt als stillschweigendes Eingeständnis der Politiker.

Doch die Alawiten sind in Aufruhr, und offensichtlich sind Einheiten der Polizei, die außerhalb des Bezirks Gazi in Istanbul im Einsatz sind, nicht unter Kontrolle. Außer in Gazi und Ümraniye demonstrierten Alawiten gestern auch in anderen Vierteln Istanbuls. Ömer Erzeren