Stundenlang brechen, tagelang Durchfall

■ Polizeiarzt hat in zwei Jahren an 400 Menschen Brechmittel zur Beweissicherung verabreicht

13 Jahre alt ist der Junge aus Liberia, „und er sieht auch so aus“, erzählt der Sozialarbeiter der Awo, Matthias Friedemann. Der Junge steht an einem Dezembertag am Hauptbahnhof, als ihn Polizeibeamte mitnehmen ins Abschiebegefängnis am Wall. Verdacht auf Drogen. Der Junge muß drei Becher mit dem Brechmittel Ipecacuanha sowie drei Becher Salzwasser trinken. Er erbricht stundenlang. Heroin- oder Kokainpäckchen kommen allerdings nicht zum Vorschein. Völlig verstört und heulend trifft ihn der Sozialarbeiter am nächsten Tag an.

Der 13jährige Afrikaner ist kein Einzelfall. Insgesamt etwa 400 Menschen, vorwiegend afrikanischer Herkunft, hat Polizeiarzt Männche zwischen Mitte 1992 und Ende 1994 das Brechmittel Ipecacuanha verabreicht, zwecks Beweissicherung. Das teilte er jüngst dem Senator für Kultur und Ausländerintegration mit. Nach der Einnahme des Sirups komme es in der Regel bald zum Erbrechen „in der Regel schwallartig, so daß verschluckte Rauschgiftcontainer mit ,ausgeschwemmt' werden. Gelegentlich beobachten wir, daß die wohl geübteren Dealer versuchen, durch geschlossene Zähne zu erbrechen, um die Rauschgiftcontainer ,auszufiltern'.“ Dann setzte er eine Kiefersperre ein – „meist höchst erfolgreich“.

Diese Praxis hat gestern das Anti-Rassismus-Büro als „leichtfertig und verantwortungslos“ angeprangert. Die Vorwürfe im einzelnen: Die Maßnahme sei nicht verhältnismäßig, geschehe in Eigenregie der Polizei statt auf Anordnung von RichterInnen oder Staatsanwaltschaft, sei vor allem aber lebensgefährlich. Nächste Woche will das Anti-Rassismus-Büro Strafanzeige erstatten, unter anderem wegen Körperverletzung im Amt. Namen von Betroffenen, also von Zeugen, wollte die Initiative gestern nicht nennen – sehr zum Ärger der geladenen PressevertreterInnen. Das ZDF zog bald wieder ab.

Vorgelegt wurden jedoch medizinische Aussagen über die Wirkung von Ipecacuanha. Während der Bremer Polizeiarzt das Mittel als „völlig harmlos“ bezeichnet, ist in einem Fachbuch der Pharmaceutical Press nachzulesen: „Große Dosen Ipecacuanha haben eine Reizwirkung auf den Magen-Darm-Trakt, wobei unstillbares und blutiges Erbrechen sowie blutiger Durchfall auftreten können. Erosionen der Schleimhaut im gesamten Magen-Darm-Trakt sind bekannt.“ Weiterhin ist von Herzstörungen die Rede, die in Verbindung mit der Entwässerung durch das Erbrechen zu einem vasomotorischen Kollaps mit nachfolgendem Tod führen könnten.

Darf man sowas mit Verdächtigen machen? Ja, sagte gestern der Senator für Justiz und Verfassung und beruft sich dabei auf den Paragraphen 81 der Strafprozeßordnung. Der läßt „körperliche Eingriffe“ eines Arztes zu Lasten eines Beschuldigten „zur Feststellung von Tatsachen“ zu, wenn dabei die Gesundheit nicht gefährdet wird.

„Wenn die Folgewirkung aber so gravierend ist, ist die Brechmittelbenutzung nicht zulässig“, sagte gestern Lorenz Böllinger, Bremer Juraprofessor. Und außerdem müßte eigentlich ein Richter diesen Eingriff anordnen. Einzige Ausnahme: Gefahr im Verzug, wenn also zum Beispiel die Vernichtung der Beweismittel droht. Nur dann dürfe ein Polizeibeamter das Brechmittel anordnen. Nicht zulässig, so der Jurist, sei eine pauschale Delegierung der Entscheidung an die Polizeibeamten – genau das aber haben Justiz- und Innensenator 1992 vereinbart. „Gefahr im Verzug“, das sei die Ausnahme von der Regel, sagt Lorenz Böllinger.

Doch die Bremer Polizei sieht offenbar nur noch Gefahr im Verzug, sagte gestern die Rechtsanwältin Barbara Kopp. Ihr Mandant, ein 17jähriger Angolaner, habe im Somer 1994, als er von zwei Zivilbeamten angehalten wurde, sofort seine 12 Kokain-Kügelchen übergeben und gesagt, daß er keine weiteren habe. Trotzdem mußte er Brechmittel trinken. Ohne Ergebnis. Anschließend mußte er sich für vier Tage in stationäre Behandlung begeben. Auch Barbara Kopp will anzeige wegen Körperverletzung im Amt stellen.

Die Bremer Staatswanwaltschaft will nun den einzelnen Fällen nachgehen, versprach gestern Hans-Georg von Bock und Polach. „Die Anzeige können die sich sparen, wir fangen schon vorher an.“

cis