■ CeBit – Feldgottesdienst für eine unbekannte Religion
: Das Neueste Testament

„Wer nicht kommt, verpaßt ein Jahr!“ Mit solchen Endzeitdrohungen haben uns die Missionare aus Hannover zur Reise einmal um die Welt gelockt. Denn, so verkünden sie urbi et orbi, mit der CeBit 95 breche das Multimedia-Zeitalter an. Eine Datenautobahn sei das neueste verknüpfende Band, die Religio für das dritte Jahrtausend. Wir haben uns das ausgemalt, wie dann jeder andächtig vor seinem Heimtabernakel meditiert, wie er Kontakt zu den entferntesten Geistern in Echtzeit aufnimmt und per Software über die Hardware ins Nowhere dringt.

Der erste Eindruck in Deutschland schien unsere Vision zu bestätigen. Denn als wir vom Hamburger Hafen kommend am Bahnhof Altona eintrafen, um von dort mit der Transportrakete ICE nach Hannover gebracht zu werden, war kaum ein Mensch zu sehen – nur ein paar verwirrte Pilger. Sollten die Menschen alle vorm Heimaltar ihrer multi-task-fähigen Home-Ports sitzen, die ja nicht nur zur Meditation, sondern auch als Work-Station zur Heimarbeit genutzt werden sollen?

Aber ein ganz weltlicher Zwischenfall hatte den Bahnhof geleert. Oder steckt mehr dahinter? Der Bahnhof in Hamburg-Altona ist seit Tagen außer Betrieb, weil im geistigen Zentrum des neuerdings computergesteuerten Bahnhofs etwas nicht funktioniert. Der Computer schaltete sich wegen eines Fehlers selbständig ab – und keiner kann nun den Fehler finden. Der Chefingenieur von Siemens vermutet einen „virtuellen Fehler im Großrechner“.

Sollte da noch ein anderer Gott der CeBit ins Programm gefunkt haben? Das sind allerdings Gedanken, wie sie nur wir Polytheisten uns machen. Menschen hier im Abendland der untergehenden Sonne glauben nur an einen einzigen Gott – und auch wenn sie an den nicht glauben, sind sie sich sicher, daß es nur eine Wahrheit und eine Lösung gibt. Diese Religion, daß alle Probleme lösbar seien und daß alles irgendwann gut wird, finden ja auch wir verführerisch, viel verlockender als unsichere Stammesweisheiten wie: „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.“

In Hannover kam es dann doch anders, als wir dachten. Kaum ein Mensch scheint zu Hause oder im Büro der MultiMediaComputer zu sitzen. Alle rennen zur Messe. Täglich gehen bis zu 130.000 Menschen zum großen Feldgottesdienst. Und was treiben sie bei der Messe? Sie starren ins Gerät. Verkündet wird ihnen überall dieselbe frohe Botschaft: Alles, was ihr hier seht, bekommt ihr bald auf euren Terminal ins Haus. Ihr werdet euch die ganze Welt in die Höhle holen! Ihr könnt künftig zu Hause bleiben.

Verstanden haben wir diese Religion noch nicht so ganz. Fast eine Million ging diese Woche zur Messe, um dann schweigend und ehrfurchtsvoll Geräte zu bestaunen. Wir sahen kaum Menschen zum Palaver zusammensitzen oder lachen oder feiern oder meditieren.

Wenn sie allerdings in ihre kleinen schwarzen Zaubergeräte mit einem kurzen, stummeligen Ast sprechen, und fast jeder hat hier so ein Ding in der Tasche, dann sprechen sie ganz hingebungsvoll, dann hören sie auch gespannt in ihr Handy hinein, dann verziehen sie sogar zuweilen eine Miene. Das nennt man Ferngespräch.

Ferngespräche scheinen die Menschen hier zu lieben. Irgendwie sind sie fernsüchtig. Überall stehen Ferngeräte herum. Fernsehgeräte sollen künftig mit Fernhörgeräten über Internetze mit den allerfernsten Großcomputern, mit Videogeräten, mit hunderttausend Millionen Client-Server- Systems zu einem einzigen großen System verbunden werden, das dann jeder für seine Kommunion zu Hause stehen hat. Multimediamenschen lieben die Ferne, aber sie wollen doch zu Hause bleiben. Irgend etwas stimmt nicht.

Komisch auch, die meisten, die zur Messe pilgern, bestimmt 90 Prozent, sind in Büßergrau gekleidete Männer. Die Kulthandlungen an den vielen, vielen geschmückten Altären werden allerdings von bunt gekleideten Priesterinnen betrieben. Und dann gibt es noch hohe Priester, die man nur selten zu Gesicht bekommt, das sind wieder Männer. Diese hohen Priester beherrschen die Kunst des leeren Wortes. Man vergißt sofort, was sie gesagt haben. Sie sprechen mit leiser, beruhigender Stimme von der anstehenden Großbeschleunigung: Alle vier Jahre verdoppele sich die Leistung ihrer Geräte und halbierten sich deren Kosten.

Einmal wurden wir in Halle 15 Zeuge von internen Gesprächen, und da redeten die hohen Priester anders. Der größte deutsche Konzern mit fast 400.000 Mitarbeitern in der ganzen Welt unterhält eine Zukunftsabteilung. Der Mann, der sie leitet, hat eine Stadt der Zukunft entworfen, die nennt er Stadt des Wissens und der Kreativität. Ein Modell steht in Halle 15. Dieser Mann, er heißt Volkmann und seine Firma heißt Siemens, meint, was in künftige Datenautobahnen geschleust werden soll, sei doch fast alles Schrott. Ihre Datenautobahn verbannt das Zukunftsteam von Siemens unter die Erde, sieht sie lediglich als Kanalisationssystem unter der Stadt des Wissens. Über dem Kanalsystem sollten weite Räume errichtet werden: Cafés, Ateliers, Hallen wie antike Akademien. Diese Räume nennt Volkmann tatsächlich Tempel des Wissens und der Phantasie. Dort stehen zwar auch Bildschirme, aber die seien nur so wichtig wie andere Werkzeuge auch.

An diesem Stand in Halle 15 treffen sich dauernd hohe Priester und übrigens auch viele bunte Scholare. Die grauen Männer mit den Hörprothesen findet man dort kaum. Montag nachmittag kam der Zukunftsminister aus Bonn in die Stadt des Wissens. 500 Fernsehprogramme und Teleshopping, meinte er, das sei ja wohl eher Gotteslästerung und bestimmt nicht das neue Multimedia- Testament. Was die Menschen nun anderen durch die neuen Kabel mitteilen werden, das wisse er auch nicht. Er wolle es jetzt erforschen lassen. Die Menschen hier sind sehr gläubig. Aber wie man hört, glauben nicht alle an die Niederkunft des Datenhimmels. Viele meinen, das sei die Hölle. Solche Debatten haben wohl im Abendland lange Tradition: Himmel oder Hölle. Man denkt hier gerne Entweder-Oder. Unser Glaube „Erde auf Erden“ ist hier verpönt. Die meisten wollen Himmel auf Erden. Etwas andere Töne hörten wir nun in der Predigt von Technologiepapst Hans-Jürgen Warnecke. Er ist Präsident des Ingenieurordens VDI, Bischof an verschiedenen Unversitäten und außerdem Abt der Fraunhofer-Institute. Warnecke ruft auf zu einem Bündnis der Pragmatiker und der Visionäre. Er sieht durch die High- speed-Technologie die alten langsamen Hierarchien purzeln. Das Geheimwissen der Oberen werde jetzt öffentlich. Oft werde deutlich, daß nichts dahinter sei. Arbeit werde von unten her demokratisiert, weil der Kompetenz die Weihe des Privatbesitzes genommen werde. Da wurde er gescholten, einer kommunistischen Sekte das Wort zu reden. Der Technologiepapst lachte. Hätten die Kommunisten statt Planwirtschaft die selbstorganisierte Arbeit eingeführt, dann hätten sie gewonnen. Was das nun wieder heißt? Reinhard Kahl