: Die Istanbuler Unruhen zeigten die Türkei als eine Gesell- schaft, die zerbricht. Und just das vermeintliche Kontrollmittel gegen die Konflikte, der „starke Staat“, erweist sich bei näherem Hinsehen als ihre Ursache. Aus Istanbul Ömer Erzeren
Der Haß ist eine Folge der Politik
Die türkische Gesellschaft zerbricht. Die Bruchlinien laufen entlang ethnischer, religiöser ideologischer und sozialer Unterscheidungen. Das Bild kompliziert sich durch Überschneidungen: Unter den Alawiten, die in den letzten Tagen im Herzen Istanbuls gegen die Polizei aufstanden, gibt es Türken und Kurden.
Dem fernen Beobachter vermittelt sich der Eindruck, daß unüberbrückbare, von außen kaum mehr verständliche Gräben Türken von Kurden, laizistische Republikaner von Islamisten, Alawiten von Sunniten trennen. Die staatstreuen Ideologen halten die Schlußfolgerung parat: Gäbe es nicht den starken Staat Türkei mit dem gewaltigen Militär- und Polizeiapparat, dann würde das Land in das Chaos der Bürgerkrieges stürzen.
Doch bei den Protesten der Alawiten in Istanbul nach den Anschlägen auf ihre Cafés waren nicht die Moscheen der Sunniten das Ziel. In Istanbul fand kein Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Alawiten statt – die Alawiten erhoben sich gegen die Polizei, die auf Demonstranten feuerte. Daß bei Straßenkämpfen die Scheiben von Geschäften klirrten, ändert nichts an dieser Tatsache. Neben Geschäften sunnitischer Bürger sind auch Geschäfte alawitischer Bürger zerstört worden. „Schlagt die Polizei“ und nicht „Schlagt die Sunniten“ war die Devise der Demonstranten.
Ähnliches gilt für die anderen Konflikte.
Die Parole „Schlagt den Kurden tot“ ist verpönt unter der türkischen Bevölkerung. Selbst die von der Regierung als verbrecherisch eingestufte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verkündet, daß sie Seite an Seite mit dem türkischen Volk leben will. „Wir möchten keinen eigenen Staat“, sagt Guerillaführer Abdullah Öcalan. Auch die islamistische Wohlfahrtspartei ist keine terroristische Organisation. Sie ist eine Massenpartei, die nach den Kommunalwahlen im letzten Jahr sogar den Oberbürgermeister von Istanbul stellt.
Doch immer wenn die türkische Ministerpräsidentin ins Ausland reist, stellt sie die Islamisten als Schreckgespenst dar. Sie prophezeit algerische Verhältnisse, falls sie um ihren Sessel gebracht wird.
Zweifelsohne herrschen Konflikte zwischen Türken und Kurden, Sunniten und Alawiten, Laizisten und Islamisten. Doch die staatliche Politik verschärft die Frontlinien – ja, schafft sie zum Teil erst –, statt integrativ zu agieren. Die Assimilationspolitik des türkischen Staates, die Leugnung kurdischer Identität, die Unterdrückung und Vertreibung von zwei Millionen Kurden aus ihrer Heimat waren erst die Grundlage für den kurdischen Nationalismus und den Aufstieg der PKK. Die jahrzehntelange Unterdrückung des politischen Islam führte zur Entstehung der Wohlfahrtspartei.
Auch die Militanz der Alawiten ist eine Folge der staatlichen Leugnungspolitik. Rund ein Drittel der türkischen Bürger sind muslimische Alawiten, die sich wie die Schiiten im Iran auf den Schwiegersohn des Propheten, Ali, berufen. Während unter den Osmanen Alawiten unterdrückt wurden, schaffte die 1923 gegründete Republik das Kalifat ab, führte den Laizismus – die Trennung von Staat und Religion – ein und verdrängte die religiöse Kontrolle über das öffentliche Leben.
Dieser laizistischen Republik waren die Alawiten lange verbunden. Doch der Charakter des Staates hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Es war der türkische Staat, der den obligatorischen Religionsunterricht an den Schulen einführte. Hier wird sunnitische Orthodoxie gelehrt – und auch die alawitischen Kinder müssen diese Stunden besuchen. „Bei den Alawiten betreiben die Väter und Brüder Inzest mit den Mädchen“, behauptete vor ein paar Jahren ein fundamentalistischer Religionslehrer – das war noch einer der seltenen Fälle religiöser Propaganda, die durch die Presse gingen, weil gegen den Lehrer ein Prozeß eröffnet wurde.
Der angeblich laizistische Staat Türkei unterhält das Amt für religiöse Angelegenheiten, in welchem ebenfalls Sunniten das Sagen haben. 90.000 Staatsdiener wachen in den Moscheen des Landes über die sunnitische Orthodoxie.
Provokativ wurden in alawitischen Dörfern und Stadtteilen Moscheen errichtet. Seit Jahrzehnten drängen alawitische Führer vergeblich, daß ihrer Glaubensgemeinschaft ein Rechtsstatus eingeräumt wird. Während der Staat die gläubigen Alawiten entrechtete – bis heute sind ihre Glaubenszentren – cemevi – formal nicht legalisiert, hat er den sunnitischen Islam im Dienste der herrschenden Politik instrumentalisiert.
Kurdische Verhältnisse im Herzen Istanbuls
Selbst einige Ideologen der sunnitisch geprägten Wohlfahrtspartei sind weiter als die herrschende Politik. Sie fordern einen Rechtsstatus für die alawitische Gemeinde. Statt durch eine liberale Politik, die neu entdeckte kulturelle Identitäten anerkennt, reagiert der türkische Staat stets mit dem Gewaltapparat.
Im Quartieren Gazi verhandelten dialogbereite Generäle mit Führern der Demonstranten, nachdem die verhaßte Polzei abgezogen wurde – eine Bankrotterklärung der Politik. Die Militärs sollen alles ausbaden, nach den Toten, die die im Dienste der Regierung stehende Polzei zu verantworten hat. Kurdische Verhältnisse im Herzen Istanbuls.
Die Fernsehbilder vom Bürgerkrieg in der Millionenmetropole Istanbul haben der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller, die mit großer Publicity die Aufnahme der Türkei in die Europäische Zollunion feiert, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nichts kommt ihr ungelegener als Todesschüsse auf Demonstranten, wo doch das Europäische Parlament die Zustimmung zur Zollunion von konkreten Demokratisierungsschritten abhängig gemacht hat.
Deshalb war strikte Anweisung an die Polizei ergangen, keinen Gebrauch von den Schußwaffen zu machen. Todesschüsse in Kurdistan sind fern – der Rauch der Todesschüsse in Istanbul hüllt die Regierung selber ein.
Doch hat die Regierung die bösen Geister, die sie gerufen hat, nicht mehr im Griff.
Ministerpräsidentin Çiller steht dumm da: als Täterin
Die Existenzquelle Hunderttausender Menschen, die vom Staat bezahlt werden, ist der Fortbestand von Gewalt und Terror. Die Rambos beweisen am besten ihre Unersetzbarkeit, wenn der Terror die Straße regiert. Doch der Lauf der Dinge hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es kam nicht zum sunnitisch-alawitischen Bürgerkrieg. Es kam zur Konfrontation zwischen alawitischen Bürgern und der Staatsgewalt. Ministerpräsidentin Çiller steht dumm da. Als Täterin, als oberste Dienstherrin der Polizei, die auf Bürger schießen läßt.
Der aufgestaute Haß auf den türkischen Staat hat in dieser Woche in die Straßenkämpfe und Toten gemündet. Die Alawiten sind verbittert über einen Staat, der sich laizistisch gibt und andererseits die Gesellschaft ganz im Sinne sunnitischer Extremisten islamisiert.
So läßt sich die These der Staatsideologen umkehren. Der „starke Staat“ hält die Konflikte nicht unter Kontrolle, sondern ruft sie erst hervor.
Die jahrelange faktische Parteinahme von Staat und Polizei erklärt erst die Explosion der Gewalt unter den Alawiten. Wo Demokratie fehlt und sich politisch-kulturelle Strömungen nur im Niemandsland der Illegalität formieren, folgt die Konfrontation. Doch in einem Land, in welchem gewählte kurdische Abgeordnete hinter Gefängnismauern gesteckt werden und Todesschützen der Polizei nicht der Prozeß gemacht wird, herrscht keine Demokratie. Wenn der Staat fortfährt, die Entrechtung von Minderheiten zu institutionalisieren, droht die türkische Gesellschaft tatsächlich in einem ethnisch-religiösen Bürgerkrieg auseinanderzubrechen.
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