Die Mysterien des Übersetzens

Gegen die Nostalgie des hohen Tons: Knut Hamsuns „Mysterien“, neu übersetzt  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Was tun, wenn ein Klassiker der Weltliteratur in einer neuen Übersetzung erscheint? Zum Rezensieren ist es zu spät, zum Ignorieren ist die Sache zu erheblich. Erste Variante: Man wedelt öffentlich und unter lautstarken „Hier! Das müßt Ihr lesen“-Rufen mit besagtem Buch, als habe man es soeben eigenhändig dem Vergessen entrissen. Zweite Variante: Bei wiederholtem Durchblättern stellt man fest, daß auch Klassiker keine Originalgenies sind, sondern ihre nahezu klassischen Stories wiederum bei anderen Klassikern abgeschrieben haben. Dritte Variante: Man liebt das Buch seit der Jugend und hat es mit feuchten Augen wiedergelesen, findet aber die neue Übersetzung recht modisch.

Fürs Fernsehen reicht das allemal, und so war es denn auch im „Literarischen Quartett“ zu sehen. Für die Tagespresse erweitert man letztgenannte Variante, wie Ralf Vollmann in der FAZ (4. März), zu einem Essay, in dem man ein wenig impressionistisch über die Feinmechanik der jeweiligen Übersetzungen räsonniere, ihr Für und Wider abwäge, um zu dem Schluß zu gelangen, daß man doch das Alte ehren solle. Die Rede ist von Knut Hamsuns Roman „Mysterien“, erschienen im Münchner List-Verlag zum Auftakt einer Neuausgabe der Gesammelten Werke, alle in neuer Übersetzung. Im vorliegenden Fall stammt sie von Siegfried Weibel und ist, was Ralf Vollmann offenbar nicht wußte, bereits die dritte.

Nachdem Hamsun mit dem 1890 erschienenen Großstadtroman „Hunger“ der Durchbruch in Skandinavien gelungen war, kam dessen deutsche Übersetzung 1892 bei Samuel Fischer heraus. Aber das Buch verkaufte sich schlecht, und so lehnte Fischer die Publikation von „Mysterien“ ab (was er bereuen sollte).

Unterdessen hatte Hamsun, der damals in Paris herumlungerte, auf irgendeiner Stehparty die Bekanntschaft eines jungen Dandys namens Albert Langen gemacht. Langen wußte nicht recht, wohin mit sich und seinem Geld. Und weil sich der Dandy prächtig mit dem Salonlöwen aus dem Norden verstand, schickte ihm Hamsun eines Tages das Manuskript von „Mysterien“ in der Übersetzung von Maria von Borch, die bereits „Hunger“ ins Deutsche übertragen hatte. Langen war so restlos begeistert, daß er eigens dafür eine der folgenreichsten deutschen Verlagsunternehmungen ins Leben rief: den Albert Langen Buch- und Kunstverlag, späterhin berühmt für seinen „Simplicissimus“. Das war 1894.

Als nun Julius Sandmeiers, also die zweite Übersetzung erschien, war Langen schon etliche Jahre tot und hatte demzufolge weder den Ruhm Hamsuns erleben dürfen noch dessen greise Sympathie für die Nazis erleiden müssen. Sein Verlag indessen nahm den 1920 verliehenen Nobelpreis – ausgerechnet für eines seiner schlechtesten Bücher, für „Segen der Erde“ – zum Anlaß, auch die frühen Romane Hamsuns in neuer Übersetzung herauszubringen. Soviel zur Vorgeschichte.

Ralf Vollmann hält dafür, daß „die ersten guten Übersetzer sehr oft jene [sind], die noch viel mehr als wir (wir müssen dann philologisch werden, wo jene noch emphatisch sein konnten) genau das Sensorium besaßen, das ihre Autoren bei ihren Lesern voraussetzten“. Mit Emphase und Sensorium ist man bei Hamsun natürlich genau an den richtigen bzw. falschen geraten. Man wird hier ganz philologisch nachfragen dürfen, ja müssen, ob die Möglichkeit zur Vereinnahmung Hamsuns durch deutsche Blut-und-Boden-Mystik nicht auch ein wenig befördert wurde durch die Übersetzungen jener Zeit. Das geht schon mit den Titeln los. Wenn etwa „Markens grøde“ im Deutschen dem „Segen der Erde“ huldigt, erntet man im Norwegischen wörtlich damit nur den Ertrag des Feldes. Und „Konerne ved vandposten“ sind keine alttestamentarischen „Weiber am Brunnen“, sondern die Frauen am Waschplatz.

Nun hat sich Vollmann in der FAZ sichtlich um solche Belege bemüht, bei denen gerade kein Unterschied zwischen Alt und Neu auffällt. Trotzdem muß man ihm dankbar sein, wenn er gerade den Schluß des Buches wählt, weil es der kleine Unterschied ist, der oftmals das große Ganze macht. Eine andere Wortstellung – und plötzlich ein anderer Ton ...

Von Held Nagel verlassen, der ins Wasser ging (es war eher ein Hopsen in einem schweren Anfall von Hysterie), bleiben gleich zwei Frauen allein zurück, sie stützen sich gegenseitig, was sich bei Sandmeier so liest: „Und schweigend gingen sie weiter, Arm in Arm, dicht aneinander gedrückt.“ Bei Weibel: „Und sie gingen schweigend weiter, Arm in Arm, dicht aneinandergedrückt.“ Kein Unterschied. Wirklich? Indem Sandmeier das Schweigen vorzieht, bekommt der Satz die elegische Färbung; bei Weibel spult er sich nüchterner ab – und steht genauso bei Hamsun.

Es geht aber auch drastischer. Als Nagel einmal beinahe über das Zimmermädchen in seinem Hotel herfällt, heißt es bei Sandmeier: „Er wollte Saras Nachlässigkeit mit den Schuhen benützen, ihr heute ein wenig näher zu kommen. Wir wollen sehen, aus welchem Stoff dieses Drontheimer Mädchen mit den sinnlichen Augen gemacht ist.“ Nun Weibel: „Wollen wir mal sehen, aus welchem Holz sie geschnitzt ist, dieses Drontheimer Mädchen mit Augen voll Geschlecht.“

Nichts gegen ein „Mädchen mit sinnlichen Augen“, kommt in den besten Bahnhofsromanen vor. Aber „Augen voll Geschlecht“? Doch so heißt es nun einmal im Original, und das klingt auch für einen Norweger, gelinde gesagt, etwas merkwürdig. Soll es ja auch.

Solche Seltsamkeiten nicht zu retuschieren, muß Aufgabe einer Hamsun-Übersetzung sein, ist es doch typisch für ihn und einer der guten Gründe, diesen Meister plötzlichen Befremdens zu lesen. Seine Figuren scheinen so verdreht wie manche Sätze, um unvermittelt wieder in einen Plauderton zurückzufallen. Die Mündlichkeit der Alltagssprache prägte den Stil des Autodidakten, der sich Schnoddrigkeiten ebenso erlaubte wie häufige Eigenwilligkeiten gegenüber der Syntax. Darin lag das Neue des Modernisten Hamsun, der das Elegische und Pathetische untergrub durch eine schleichende, alles befallende Ironie.

Siegfried Weibels Übersetzung ist die erste, die sich um dieses Neue, diese Ambivalenz bis in die Verästelungen der Sprache hinein bemüht. Sandmeier hatte so manches davon glattgebügelt. Es geht um Nuancen, um die richtige Betonung. Aber gerade von ihnen lebt ein Charakter wie Johan Nilsen Nagel (und sein Erzähler Hamsun): ein Scharlatan, so nennt er ihn selber, und ein potentieller Fall für die Couch. Nicht zufällig erschien 1895, also ein Jahr nach der deutschen Übersetzung der „Mysterien“, ein Bändchen von Sigmund Freud und Friedrich Breuer „Studien über Hysterie“.

Hamsun ist ein Desillusionist, der seine Figuren nach allen Regeln der Kunst scheitern läßt – er demontiert sie geradezu und ihre sämtlichen Versuche, im Leben Fuß zu fassen. Und viele von ihnen erzählen wie Nagel gern Geschichten – und lügen dabei wie gedruckt. Darin sind sie ihrem Schöpfer verwandt, denn Hamsun war der Prototyp des „unreliable authors“, des unzuverlässigen Erzählers.

Wer also auf ihn allein mit Emphase und Sensorium reagiert, ist schon hereingefallen.