Der Adoptivsohn der Vampire

Der letzte Dracula errichtet sein Reich in Schenkendorf bei Berlin – mit Knoblauchabteilung und Open-air Kino  ■ Von Thorsten Schmitz

Sein Gesicht erinnerte stark – sehr stark – an einen Adler. Die Augenbrauen waren sehr dicht und buschig. Sein Mund war fest geschlossen, was ihm ein ausgesprochen grausames Aussehen verlieh, wozu die extrem scharfen, weißen Zähne noch besonders beitrugen; diese ragten sogar über die Lippen hinaus. Der allgemeine Eindruck war der einer außerordentlichen Blässe.

Der Prinz pflegt eine furios fundamentale Liebe zu Bäumen, Blüten und Blumen. Auf einer Wiese hocken, den Mücken zugucken, das ist ihm ebensoviel Balsam für die Seele wie die zwei Wochen Vollpension in Mauritius. Je älter er wird, desto mehr erquicken ihn außerdem Knospen, die sprießen. Im allgemeinen spendet die affektive Freundschaft zur Natur dem Prinzen Kraft – und wischt über quälende Zweifel hinweg, daß der Mensch letztlich doch nur von Profitgier getrieben sei.

Böse Mächte haben ihm allerdings vor sechs Monaten übel mitgespielt und diese Liebe, die den philantropischen Prinzen fast täglich ins Brandenburger Land treibt, empfindlich getrübt. Spätsommer war's, selig stakste er durchs Unterholz bei Königs Wusterhausen, und eine weibliche Zecke pfropfte sich in seiner linken Kniekehle fest. Dort betrank sie sich bis zu ihrem Tode mit des Prinzen Blut, das, royalem Reglement gemäß, inzwischen blau sein dürfte.

Der blutsaugende Zeckenbiß zermürbt das Gemüt des Prinzen bis heute. Eine buddhistische Unantastbarkeit strahlt der vermögende Mann aus, als hätte das Vieh ihn seines Lebenselixiers beraubt. Nachts schläft er seitdem höchstens drei Stunden am Stück, die restliche Zeit wälzt er sich in Erwartung des Morgens von links nach rechts. Die dunkelbraunen Knopfaugen stechen noch, die Lider aber liegen müde unter den schmalen Augenbrauen.

Und erst der Graf! Seine Augen sprühten wirklich Feuer! Das rote Licht in ihnen war lebendig, als loderten die Flammen der Hölle selbst hinter ihnen.

Blut spenden ist ihm nun verwehrt. Doch er unterstützt die Sanitäter des Roten Kreuzes auch weiterhin und sitzt mindestens einmal im Monat vor einem dieser mobilen Blutspendecontainer, denn: „Blut brauchen wir ja alle.“ Läßt sich betatschen von fremden Menschen und verteilt großzügig Autogrammkarten unters Berliner Volk.

Seine Signaturen sind Sammelware: „Herzlichst, Vlad Dracul“.

Das Licht der Welt erblickte der heutige Prinz und Antiquitätenhändler 1941 als Durchschnittsberliner mit Durchschnittsnamen: Ottomar Berbig schrieb eine Krankenschwester in die Geburtsurkunde. Vor acht Jahren katapultierte sich dieser Herr Berbig durch ein schlichtes Ja in höhere gesellschaftliche Sphären, die ihm eigenen Aussagen zufolge indes nichts bedeuten. Katharina Olympia Caradja geb. Kretzulesco, eine Kundin aus Paris, suchte ihn in seinem Antiquitätenladen auf und bat, ihn „an Sohnes statt“ annehmen zu dürfen. Sie selbst hatte „nur“ zwei Töchter zur Welt gebracht, das Adelsgeschlecht des Fürsten Dracula, der seine Feinde im 15. Jahrhundert bei lebendigem Leib aufzuspießen pflegte, war vom Aussterben bedroht.

Herr Berbig bat um eine Nacht Bedenkzeit, was ihm selbstverständlich gewährt wurde, und entschied sich für eine Existenz als letzter männlicher Dracula-Nachfahre. Er wird ein Kind zeugen müssen, das ist seine allererste Pflicht. „Das werden meine Freundin und ich auch noch schaffen“, sagt er. Über „die Tragbarkeit des Namens“ hat er damals nicht nachgedacht. Er beschwert sich nicht, in Restaurants und auf Bällen geoutet zu werden mit dem Ausruf: „Ah, da sitzt ja Dracula!“ Ein leibhaftiger Vampir – sowas konveniert auch feinen Leuten.

Sein Name sprengt heute jedes Visitenkartenformat: Ottomar Rodolphe Vlad Dracul Prinz Kretzulesco. Freunde duzen ihn „Draci“.

Dann sah ich etwas, das meine Seele mit Horror überflutete. Da lag der Graf, aber er sah aus, als sei seine Jugend zur Hälfte zurückgekehrt. Die Wangen waren voller; der Mund war roter denn je, denn auf seinen Lippen hingen Tropfen frischen Blutes, das ihm noch aus den Mundwinkeln tropfte und ihm von da über Kinn und Hals lief.

Nur sehr selten lacht der Prinz, er erklärt sich das so: „Ich bin eben ein Einzelgänger.“ Am liebsten würde er in Jeans und Pullover die Mühen des Alltags in Angriff nehmen, aber seine betuchte Kundschaft verlangt auch äußerlich Noblesse. So sitzt der Mann unangeschnallt im fein gestreiften Zweireiher in seiner verstaubten Karrosse, ein Brillant hält die Seidenkrawatte im Zaum. Durch die schalldichten Limousinenfenster registriert er wie Berlins Vorgarten um des Geldes willen geliftet wird. An diesem Donnerstag morgen absolviert er die Kür des Alltags. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht seinen käuflichen Schätzen und der Stadt den Rücken kehrt, und seiner „Lebensaufgabe“ einen Besuch abstattet. Die befindet sich Dutzende von Schlaglöchern und eine Mercedes- SEL-Stunde südlich von Berlin, in Schenkendorf, wo Königs Wusterhausen ausfranst.

Das Schloß ist alt und birgt viele Erinnerungen, die über jene kommen könnten, die unklugerweise in seinen Mauern übernachten. Lassen Sie sich warnen! Sollte Sie jetzt der Schlaf übermannen, dann hasten Sie so schnell Sie können in Ihr eigenes Zimmer, denn dann wird Ihr Schlaf sicher sein.

Prinz Kretzulesco will dem Osten etwas schenken, ein Schloß nämlich, und das finden die vom Großstadttreiben abgenabelten Jugendlichen des Dorfes „urst toll“. Denn erstens haben sie die kulturelle Ereignislosigkeit im Umkreis von 30 Kilometern satt. Und zweitens soll das Gutshaus Schenkendorf in Schenkendorf, das dem Prinzen samt 140.000 Quadratmeter bewaldeter Freifläche seit letztem Freitag gehört, noch in diesem Sommer ähnlich magnetische Wirkung entfalten wie die flächendeckend allgegenwärtigen Einkaufsinseln. Vlad Dracul Prinz Kretzulesco investiert mehrere hunderttausend Mark in das Erbe der jüdischen Verlegerfamilie Lachmann- Mosse, um dort eine Art Erlebnispark für Vampire zu errichten. Ein „Reich Dracula“ dort, wo die Nationale Volksarmee der DDR hinter hohen Mauern jahrzehntelang ihre Grenzsoldaten scharf machte. Die „wahre Geschichte“ des rumänischen Grafen Dracula will er dokumentieren, mit 260 verschiedenen Filmen, Bildern und Dracula- Souvenirs. In 55 Nistkästen schlummern bereits tags- und kopfüber die ortsansässigen Fledermäuse.

Der Vampir lebt fort und kann nicht einfach dadurch sterben, daß die Zeit verrinnt; er kann blühen und gedeihen, solange ihm das Blut der Lebenden zugänglich ist.

Tatsächlich ist der Prinz, als er noch Konditor war und zum Mittagsmahl Walderdbeerentörtchen verzehrte, mit dem Dracula-Bild sozialisiert worden wie jeder Erdenbürger: Vampir beißt Hals und saugt Blut, wobei der Biß, findet der Prinz, etwas von der Erotik eines „Geschlechtsaktes“ habe. Aber das interessiert ihn jetzt nicht mehr. „Es ist doch immer dasselbe: Sargdeckel auf, Sargdeckel zu, zwischendurch ein furchterregender Dracula mit Blut in den Mundwinkeln.“ Sein Schloß als Legendenkorrektur – „Das isses!“

Dann hörte ich ein Klirren wie von schweren Ketten und bemerkte, daß ein massiver eiserner Riegel zurückgeschoben wurde. Dann schwang die große Tür auf. Dahinter stand ein großer alter Mann, ohne auch nur das geringste Anzeichen irgendwelcher Farbe irgendwo an ihm.

Von Grund auf muß das Gutshaus und seine Fassade aus Glindower Kacheln herausgeputzt werden, mit Zahnarztbesteck holen Restaurateure die filigranen Stuckbordüren hervor. Ein Open- air-Kino und einen Biergarten will der Prinz installieren, der selber selten ausgeht, eine Post-Dependance mit Dracula-Stempeln und einen Antiquitätenshop, eine Knoblauchabteilung und ein Jugendzentrum. Wenn der Prinz sein Areal abschreitet, sein künftiges Reich und Zuhause imaginiert, sind seine Gesichtszüge für einen Augenblick entspannt. Nicht lange, denn der homöopathische Saft gegen Zeckenzipperlein, den er gerade in seinem Märchenwald nicht verpaßt zu schlucken, schmeckt scheußlich bitter.

Das Etwas in dem Sarg krümmte sich zusammen, und ein grauenhaftes Kreischen drang über die geöffneten Lippen. Der Körper wand sich in wilden Konvulsionen; die scharfen Zähne schlugen aufeinander, bis sie die Lippen durchbohrt hatten und der ganze Mund mit einem purpurroten Schaum bedeckt war.

In Rumänien ist Vlad Tepes, der eigentliche Name des Grafen Dracula also, ein Nationalheld. Die Volkssage verklärt ihn zum strengen, aber gerechten Herrscher. Prinz Kretzulesco ist auf dem besten Weg, seinerseits eine Art Volksheld von Königs Wusterhausen zu werden. Für diese Annahme spricht auch ein extraterrestrischer Beleg. Als in des Prinzen Paß noch Berbig stand, hatte ihm eine Astrologin weisgesagt, er werde mal ein berühmter Mann. Die erwachsenen Schenkendorfer gucken zwar skeptisch noch, wenn die dunkelblaue Limousine die Dorfgrenze passiert. Was der Freizeitpark ihrem Örtchen wohl beschert außer parkplatzsuchenden Wessis? Die Jugendlichen dagegen sind vorurteilslos Feuer und Flamme fürs „Reich Dracula“. Als plötzlich ein Berliner Geschäftsmann beim Poker ums Gutshaus mitbot und mit seiner Idee antichambrieren ging, dort auch Sozialwohnungen zu errichten, gingen die Kinder demonstrieren und sammelten Unterschriften. 1.300 bekamen sie zusammen, darunter viele von Grundschülern hingekritzelte. Juristisch gesehen war das ein bedeutungsloser Protest von unmündigen Halbwüchsigen, eine bemerkenswerte Willensbekundung aber immerhin. „Wir wollten unser Märchenschloß behalten“, sagt Stefan Leitmeyer, 14, von den Waldies, der Köngis Wusterhausener Waldschutzgruppe. Die in den USA lebende Erbengemeinschaft Lachmann-Mosse gab dem Prinzen den Zuschlag – und den Waldies ein Zuhause. Sie durften ein Storchennest bauen, die Schlafstätten für Fledermäuse und ihre Schafe Max und Moritz weiden lassen. Unglücklicherweise sind die vor ein paar Wochen von wilden Hunden gerissen worden.

Die Jugendlichen hoffen darauf, daß der Prinz sein Versprechen einlöst und Platz findet für den Jugendclub. Der Bürgermeister übrigens glaubt, daß „sowas“ nicht nötig sei, weshalb sich die Jugendlichen nach der Schule an der Bushaltestelle treffen. Die infantile Unterschriftenaktion hat dem Prinzen, sagt er, eine Gänsehaut beschert. So gehorcht er einer Verpflichtung, die ihm niemand auferlegt hat. Warum er sich die Arbeit aufhalst, bleibt ein Rätsel, das er vermutlich selbst nie lösen wird: „Ich habe keine Ahnung, warum ich sowas mache. Ich könnte viel ruhiger leben.“

Sobald das Schloß seine Pforte öffnet zu Draculas Reich, wird Prinz Kretzulesco mit den Waldies nach Rumänien reisen und ihnen dort die Plätze zeigen, an denen Ur-Dracula gerechtet und gerichtet hat. Die Kinder wissen noch nichts davon. Am Eröffnungstag will er sie mit dieser Nachricht überraschen.

Das letzte, was ich von Graf Dracula sah, war, wie er mir eine Kußhand zuwarf, in den Augen ein rotes Leuchten des Triumphes und auf dem Gesicht ein Lächeln.

Alle kursiv gedruckten Zitate aus: „Dracula“ von Bram Stoker, Bastei-Lübbe-Taschenbuch, 1993.