Der finnische Graben wird tiefer

Morgen wird in Finnland gewählt. Die Trennung zwischen Arbeitsplatzinhabern und Arbeitslosen ist schärfer geworden. Unzählige neue Kleinparteien werben um Stimmen.  ■ Aus Helsinki Reinhard Wolff

Riina Tikkanen ist im Dezember neunzehn geworden. Jetzt verteilt sie in Cafés der finnischen Hauptstadt kleine Bildchen von sich. Sie dürfte die jüngste Kandidatin bei diesen Parlamentswahlen sein: „Die Idee habe ich vor einem Jahr bekommen, als meine Freunde darüber klagten, daß es überhaupt keine jungen Abgeordneten bei uns gibt.“ Gar keine ist übertrieben. Aber von 200 Abgeordneten sind nur drei jünger als 30, und das Durchschnittsalter liegt bei 51 Jahren.

Riina hat große Pläne: „Das ganze Steuer-, Sozialhilfe- und Arbeitslosensystem muß von Grund auf geändert und neu aufgebaut werden. Jeder soll Anspruch auf einen festen Basislohn haben, dafür aber auch Gemeinschaftsarbeit leisten, wenn er arbeitslos ist.“ Für die Stärkung der Kernfamilie ist sie, gegen Alkohol und die Legalisierung „weicher“ Drogen. Sie kandidiert unabhängig, kann sich nur auf ein paar Freunde stützen. Aber: „Ich komme hinein“, ist sie sich sicher. Und zieht weiter zum nächsten Café.

Die Stimme von Rakel wird sie nicht kriegen. „Nein“, legt sie das Werbebildchen neben die Café- au-lait-Tasse, „nur weil ich arbeitslos bin, ändert sich doch nicht gleich meine politische Auffassung. Wir haben bei Kanervaiset viel über die verschiedenen Parteiprogramme diskutiert. Ich werde wieder sozialdemokratisch wählen.“ Kanervaiset, eine Organisation, die sich der Probleme arbeitsloser Frauen angenommen hat, war in den letzten Monaten ein wichtiger Treffpunkt für sie – eine der 20 Prozent Arbeitslosen. Rakel hat Glück: Ab Anfang April hat sie einen neuen Job. Ein Zeichen des Wirtschaftsaufschwungs?

Den anzuschieben, hatte Paavo Lipponen am Vormittag an einem Stand seiner Partei auf dem Marktplatz von Helsinki versprochen. Der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten verspricht ein „Erste- Hilfe-Programm“, das Zehntausende neuer Arbeitsplätze schaffen und die Arbeitslosigkeit in den nächsten vier Jahren halbieren soll. Die SozialdemokratInnen haben den unschätzbaren Vorteil, in den letzten vier Jahren Oppositionspartei gewesen zu sein.

Anita hat nicht das Glück ihrer Freundin Rakel, sich auf das Ende einer zweijährigen Arbeitslosigkeit einstellen zu können: „Wir Arbeitslosen und die Rentner, wir können ja nicht streiken. Bei uns kann man immer mehr streichen. Was ist das für eine Solidarität: Die Arbeit haben, kriegen den Hals nicht voll mit Überstunden, und wir sind arbeitslos.“ Lange schon wird diskutiert, wie zu verhindern sei, daß der Graben zwischen denen, die Arbeit haben, und den anderen noch tiefer wird: Teilzeitarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Anstellungsförderungsprogramme. Es wird diskutiert, aber nicht nur Anita sieht „keinen wirklichen politischen Willen“.

Statt dessen versuchen sich die drei etablierten Parteien – neben den Sozialdemokraten sind dies die Partner der jetzigen konservativen Regierungskoalition: die Nationale Sammlungspartei und das Zentrum von Ministerpräsident Esko Aho – mit neuen Sparprogrammen zu übertreffen. Statt dabei aber konkret zu werden und gar WählerInnen zu verprellen, geht nicht nur Paavo Lipponen lieber zur Frage über, wie die künftige Regierung aussehen soll.

35 Prozent, eine Steigerung von glatt 10 Prozent, waren seiner Partei noch vor ein paar Monaten vorhergesagt worden. Seither geht es ständig bergab, was auch dem Spitzenkandidaten angekreidet wird. Bei jeder Fernsehdiskussion zieht der Mann den kürzeren, sprachlich ist er o schwerfällig wie körperlich, und „Traktor“ ist einer seiner schmeichelhafteren Spitznamen. Trotzdem zweifelt kaum jemand an einem sozialdemokratischen Wahlsieg und einer nachfolgenden „rot-blauen“ Koalition mit der konservativen Sammlungspartei.

Anita hätte lieber rot-grün. Immerhin wird den Grünen ein Aufschwung um 5 auf knapp 10 Prozent vorhergesagt. Eine Sozialdemokratie aber, die sich ernsthaft auf grüne Programmpunkte wie ein neues System von Umweltsteuern und eine Arbeitszeitreform einlassen würde, müßte in Finnland erst noch gegründet werden. Da müßte es schon zu einem extrem schlechten Ergebnis der Sozialdemokraten kommen.

Oder zu einer Verzettelung der Stimmen auf die neuen Parteien, die im Gefolge der wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe der letzten vier Jahre wie Pilze aus dem Boden gewachsen sind: eine Jugendpartei, eine Frauenpartei und zwei Rentnerparteien. Anita ist für solch eine Proteststimme frustriert genug: „Wenn man sieht, wie die etablierten Parteien über alles hinweggehen wollen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist, juckt das wirklich.“